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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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einen Gedanken gern bis zur siebten Interpretationsebene hochschraubte. Er war groß und wuchernd, ein reines Knochengerüst, der Typus Körper, der nicht immer im Gleichtakt mit seinen Winkeln und Gelenken funktioniert. Einer hatte mal gesagt,er sähe aus wie eine Promenadenmischung, bei der ein Storch beteiligt war, andere fanden, eher ein Strauß. Er schien Essen nicht zu schmecken; er verbrauchte es, absorbierte es, verzehrbare Materie pflanzlicher oder tierischer Herkunft. Er benannte Entfernungen immer in Metern und Kilometern, und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass das weniger affektiert als vielmehr einem drängenden Bedürfnis geschuldet war, Maßeinheiten mehr oder weniger sofort umzurechnen. Er stellte gern sein Wissen auf die Probe. Er blieb gern im Gehen stehen, um eine Aussage zu betonen, während ich weiterging. Das war mein Kontrapunkt, ihn einfach stehen zu lassen, zu einem Baum reden zu lassen. Je oberflächlicher unsere Streitgespräche wurden, desto hitziger wurden wir.
    Dieses hier wollte ich in Gang halten, unter meiner Kontrolle, ich wollte ihn unter Druck setzen. Kam es darauf an, was ich sagte?
    »Selbst aus der Ferne sah die Kapuze zu klein aus, um einen Fellbesatz zu haben. Sie lag eng an«, sagte ich. »Ein echter Anorak hätte eine Kapuze mit genug Platz für eine Wollmütze darunter. So machen das die Inuits doch auch.«
    Der Campus wurde nach und nach sichtbar, hinter hohen Baumreihen an einer Landstraße. Wir wohnten in lauter energieeffizienten Häusern mit Solarpaneelen, begrünten Dachflächen und Wänden aus Rotzeder. Der Unterricht wurde im alten Teil abgehalten, mehreren massiven Betonbauten, die pauschal »der Zellenblock« hießen, eine Fahrradfahrt oder einen langen Fußweg von den Wohnheimen entfernt, und der Hin- und Rückfluss der Studenten, in Stammesschwärmen, schien zur Architektur des Ortes zu gehören. Ich war in meinem ersten Jahr hier, und ich war immernoch damit beschäftigt, die Zeichen zu deuten und mich den Mustern anzupassen.
    »Sie haben Karibus«, sagte ich. »Sie haben Robbenfleisch und Treibeis.«
    Lass doch die Bedeutung mal Bedeutung sein, spontan. Und mach die Wörter zu Fakten. Das war das Wesen unserer Spaziergänge – zu registrieren, was es da draußen gab, all die verstreuten Rhythmen von Umstand und Ereignis, und es in Form menschlicher Laute zu rekonstruieren.
    Das Seminar war in Logik, in Zellenblock 2, wir saßen zu dreizehnt an beiden Seiten eines langen Tisches, Ilgauskas am Kopfende, ein stämmiger Mann Ende vierzig, an diesem Tag von ständigen Hustenanfällen geplagt. Er sprach im Stehen, vorgebeugt, die Hände auf dem Tisch abgestützt, und oft starrte er lange auf die kahle Wand am anderen Ende des Raumes.
    »Der Kausalnexus«, sagte er und starrte auf die Wand.
    Er starrte, wir blickten. Wir tauschten häufig Blicke zwischen der einen und der anderen Tischseite. Wir waren fasziniert von Ilgauskas. Er schien sich in Trance zu befinden. Aber er war nicht bloß abwesend während seiner Bemerkungen, nicht bloß eine weitere leer gelaufene Stimme, die durch den Tunnel der Lehrjahre hallte. Wir hatten uns darauf geeinigt, einige jedenfalls, dass er an einer neurologischen Krankheit litt. Er war nicht gelangweilt, sondern bloß ungebunden, er sprach frei und unberechenbar aus einer leidgeprüften Einsicht heraus. Es war eine Frage der Neurochemie. Unser Befund lautete, dass die Krankheit noch nicht gut genug erforscht war, um einen Namen zu tragen. Und wenn sie keinen Namen hatte, sagten wir, womit wir eine logische Theseparaphrasierten, dann konnte sie auch nicht behandelt werden.
    »Die atomare Tatsache«, sagte er.
    Dann folgten zehnminütige Ausführungen, während deren wir zuhörten, blickten, mitschrieben, das Lehrbuch durchforsteten und Zuflucht beim gedruckten Wort suchten, bei irgendetwas Bedeutungsähnlichem, das vielleicht in grober Äquivalenz zu seinen Worten stünde. Im Seminar gab es keine Laptops oder Palm Organizers. Ilgauskas hatte sie nicht verboten; das taten wir selber irgendwie, unausgesprochen. Einige von uns konnten kaum einen Gedanken zu Ende denken ohne Touch Pad oder Scroll Button, aber wir begriffen, dass Hochgeschwindigkeitsdatensysteme hier nicht hingehörten. Sie waren ein Angriff auf das Umfeld, das durch Länge, Breite und Tiefe bestimmt wurde, mit ausgedehnter Zeit, in Herzschlägen berechnet. Wir saßen da und hörten zu oder saßen da und warteten. Wir schrieben mit Stiften oder Bleistiften.

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