Der Engel Esmeralda
Korridor hinunter zur Sonnenveranda. Der Raum war überdacht von einem schrägen Baldachin aus unterteiltem Glas, ich schob den Riegel zur Seite und schwang ein Fensterelement auf. Mein Pyjama schien zu verdampfen. Ich fühlte die Kälte in meinen Poren, meinen Zähnen. Mir war, als würden meine Zähne klingeln. Ich stand da und schaute, ich war von jeher ein Schauender. Jetzt kam ich mir wie ein Kind vor, das eine Wette gewinnen will. Wie lange würde ich es aushalten? Ich spähte in den Nordhimmel, den lebendigen Himmel, und ich stieß den Atem in kleinen Rauchwolken aus, als trennte ich mich gerade von meinem Körper. Ich war mittlerweile so weit, dass ich die Kälte liebte, aber das hier war idiotisch, und ich schloss das Fensterelement und kehrte in mein Zimmer zurück. Ich tigerte eine Weile auf und ab, schlug die Arme um meinen Leib, versuchte, das Blut aufzuschäumen, den Körper aufzuwärmen, und zwanzig Minuten, nachdem ich wieder im Bett lag, hellwach, kam mir die Idee. Sie kam aus dem Nichts, aus der letzten Nacht, voll ausgeprägt, sie dehnte sich in mehrere Richtungen aus, und als ich am Morgen die Augen aufschlug, umzingelte sie mich und füllte das Zimmer aus.
An jenen Nachmittagen war das Licht schnell dahin, und wir redeten fast ununterbrochen, lieferten uns ein Wettrennen gegen den Wind. Jedes Thema hatte gespenstische Verbindungen, Todds angeborene Leberkrankheit verschwamm mitmeinem Ehrgeiz, einen Marathon zu laufen, eins führte zum anderen, die Theorie der Primzahlen zum konkreten Anblick ländlicher Briefkästen an einer öden Straße, elf Exemplare auf Pfosten, rostzerfressen und kurz vorm Kollaps, eine Primzahl, verkündete Todd und machte ein Handyfoto.
Eines Tages kamen wir in die Nähe der Straße, wo der Mann mit der Kapuze wohnte. Und da erzählte ich Todd von der Idee, die mir gekommen war, der Erleuchtung in der eisigen Nacht. Ich wisse, wer der Mann sei, sagte ich. Alles passte, jedes Element, die Herkunft des Mannes, seine Familienbande, seine Anwesenheit in dieser Stadt.
Er sagte: »Okay.«
»Erstens ist er Russe.«
»Russe.«
»Er ist hier, weil sein Sohn hier ist.«
»Er hat aber nicht die Haltung eines Russen.«
»Die Haltung? Was ist die Haltung? Er könnte problemlos Pavel heißen.«
»Überhaupt nicht.«
»Großartige Möglichkeiten für Namen. Pavel, Michail, Alexej. Viktor mit k. Seine verstorbene Ehefrau hieß Tatjana.«
Wir blieben stehen und blickten die Straße hinunter, auf das graue Fachwerkhaus, das wir als Heim des Mannes bestimmt hatten.
»Pass auf«, sagte ich. »Sein Sohn lebt in der Stadt, weil er am College unterrichtet. Er heißt Ilgauskas.«
Ich wartete auf seine Verblüffung.
»Ilgauskas ist der Sohn vom Mann mit der Kapuze«, sagte ich. »Unser Ilgauskas. Sie sind Russen, Vater und Sohn.«
Ich zeigte auf ihn und wollte, dass er auf mich zeigte.
Er sagte: »Ilgauskas ist zu alt, um der Sohn dieses Mannes zusein.«
»Er ist nicht einmal fünfzig. Der Mann ist in den Siebzigern, problemlos. Mitte siebzig höchstwahrscheinlich. Das passt, das funktioniert.«
»Ist Ilgauskas ein russischer Name?«
»Warum sollte es keiner sein?«
»Irgendwo anders, irgendwo in der Nähe, aber nicht zwingend russisch«, sagte er.
Wir standen da und sahen zu dem Haus hinüber. Ich hätte diese Art Widerstand erwarten müssen, aber die Idee war mir so einleuchtend erschienen, dass sie meine Vorsichtsinstinkte ausgeschaltet hatte.
»Es gibt etwas, das du von Ilgauskas nicht weißt.«
Er sagte: »Okay.«
»Er liest Dostojewskij, Tag und Nacht.«
Ich wusste, dass er nicht fragen würde, woher ich dieses Detail hatte. Es war ein faszinierendes Detail, und es gehörte mir, nicht ihm, was bedeutete, dass er es unkommentiert durchgehen lassen würde. Aber sein Schweigen währte kurz.
»Muss er Russe sein, um Dostojewskij zu lesen?«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass alles zusammenpasst. Es ist ein Konzept, es ist kunstvoll, es ist strukturiert.«
»Er ist Amerikaner, Ilgauskas, genau wie wir.«
»Ein Russe ist immer ein Russe. Er spricht sogar mit leichtem Akzent.«
»Ich höre keinen Akzent.«
»Du musst zuhören. Er ist da«, sagte ich.
Ich wusste nicht, ob er da war oder nicht. Der norwegische Ahorn musste nicht norwegisch sein. Wir erarbeiteten Spontanvariationen aus dem Quellenmaterial unserer Umgebung.
»Dusagst, der Mann wohnt in dem Haus dort. Das akzeptiere ich«, sagte ich. »Ich sage, er wohnt dort mit seinem Sohn und dessen Frau.
Weitere Kostenlose Bücher