Der Engel Esmeralda
Sie heißt Irina.«
»Und der Sohn. Der sogenannte Ilgauskas. Sein Vorname?«
»Wir brauchen keinen Vornamen. Er ist Ilgauskas. Mehr brauchen wir nicht«, sagte ich.
Sein Haar war verstrubbelt, das Sakko staubig und fleckig, kurz davor, sich an den Schulternähten aufzulösen. Er beugte sich zum Tisch, kantiges Kinn, schläfriger Blick.
»Wenn wir den schweifenden Gedanken isolieren, den flüchtigen Gedanken«, sagte er, »den Gedanken, dessen Ursprung unbegreiflich ist, dann wird uns langsam klar, dass wir gewohnheitsmäßig gestört sind, alltagsverrückt.«
Wir waren begeistert von der Vorstellung, alltagsverrückt zu sein. Sie klang so wahr, so echt.
»In unserem Innerlichsten«, sagte er, »herrschen nur Chaos und Vagheit. Wir haben die Logik erfunden, um unser kreatürliches Ich zurückzuwerfen. Wir bestätigen oder verneinen. Wir lassen N auf M folgen.«
Unserem Innerlichsten, dachten wir. Hatte er das wirklich gesagt?
»Die einzigen Gesetze, die zählen, sind die Gesetze des Denkens.«
Seine Fäuste lagen geballt auf der Tischplatte, mit weißen Knöcheln.
»Alles andere ist Teufelsanbetung«, sagte er.
Wir gingen spazieren, sahen den Mann aber nicht. Die Kränze waren größtenteils von den Haustüren verschwunden, und ab und zu kratzte eine eingemummelte Gestalt Schneevon einer Windschutzscheibe. Mit der Zeit begriffen wir, dass diese Spaziergänge keine beiläufigen außeruniversitären Streunereien waren. Wir betrachteten keine Bäume oder Güterwaggons wie sonst, benannten, zählten, kategorisierten nicht. Dies war etwas anderes. Der Mann mit der Kapuze stand für sich, alter, gebeugter Körper, Gesicht von mönchischem Tuch gerahmt, eine Geschichte, ein verblasstes Drama. Wir wollten ihn noch einmal sehen.
Darauf einigten wir uns, Todd und ich, und arbeiteten in der Zwischenzeit gemeinsam daran, seinen Tag zu beschreiben.
Er trinkt den Kaffee schwarz aus einer kleinen Tasse und löffelt Müsli aus einer Kinderschale. Sein Kopf hängt praktisch in der Schale, wenn er sich zum Essen vorbeugt. Er liest dabei keine Zeitung. Nach dem Frühstück geht er in sein Zimmer zurück, wo er sitzt und nachdenkt. Seine Schwiegertochter kommt herein und macht das Bett, Irina, obgleich Todd den Namen nicht als zwingend empfand.
An manchen Tagen mussten wir Schals um unsere Gesichter schlingen und mit gedämpfter Stimme sprechen, nur unsere Augen waren der Straße und dem Wetter ausgesetzt.
Es gibt zwei Schulkinder und ein kleineres Mädchen, das Kind von Irinas Schwester, die aus noch nicht ermittelten Gründen hier sind, und der alte Mann verbringt den Vormittag gern damit, mal Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen, zusammen mit der Kleinen, allerdings nicht neben ihr. Er besetzt einen Sessel, der ordentlich weit vom Fernseher weg steht, und döst zuweilen ein. Mit offenem Mund, sagten wir. Mit schräg gelegtem Kopf und offen stehendem Mund.
Wir wussten nicht genau, warum wir das taten. Aber wir versuchten gewissenhaft zu sein, fügten jeden Tag neue Elementehinzu, nahmen Anpassungen und Verfeinerungen vor und suchten währenddessen stets die Straßen ab, versuchten, durch vereinte Willenskraft sein Erscheinen herbeizuführen.
Suppe zum Mittagessen, jeden Tag Suppe, hausgemacht, und er hält seinen großen Löffel über der Suppenschüssel, der Schüssel aus dem alten Land, ganz ähnlich wie das Kind, bereit, einen Spaten einzustechen und zu schaufeln.
Todd sagte, Russland sei zu groß für den Mann. Er würde sich in dessen endlosen Weiten verirren. Denk mal an Rumänien, Bulgarien. Noch besser, Albanien. Ist er Christ, ist er Moslem? Mit Albanien, sagte er, vertiefen wir den kulturellen Kontext. Kontext war sein Rückzugswort.
Wenn er bereit für seinen Spaziergang ist, versucht Irina ihm beim Zuknöpfen seines Parkas, seines Anoraks zu helfen, aber er schüttelt sie mit ein paar schroffen Worten ab. Sie zuckt die Achseln und gibt ihm mit gleicher Münze zurück.
Mir wurde klar, dass ich vergessen hatte, Todd zu sagen, dass Ilgauskas Dostojewskij im Original las. Das war eine glaubhafte Wahrheit, eine nutzbare Wahrheit. Sie machte Ilgauskas im Kontext zu einem Russen.
Er trägt Hosen mit Hosenträgern, bis wir beschlossen, dass er es nicht tat; es war zu nah am Klischee. Wer rasierte den Alten? Tat er es selbst? Das wollten wir nicht. Aber wer tat es und wie oft?
Das war meine kristallklare Verbindungskette: vom Alten zu Ilgauskas zu Dostojewskij zu Russland. Ich dachte die ganze Zeit
Weitere Kostenlose Bücher