Der Engel Esmeralda
trank eine Cola, der Strohhalm guckte aus der Dose.«
»Du hast mit ihm gesprochen.«
»Ich sagte irgendwas nicht allzu Originelles, und dann redeten wir ab und zu. Er hatte seinen Mantel auf den Platz ihm gegenüber geworfen, und ich aß einen Salat, und auf seinem Mantel lag ein Buch, und ich fragte ihn, was er gerade lese.«
»Du hast mit ihm geredet. Mit dem Mann, der einen dazu bringt, in Urangst und – schrecken den Blick zu senken.«
»Es war im Diner. Er trank Cola mit Strohhalm«, sagte sie.
»Fantastisch. Was las er?«
»Er sagte, Dostojewskij. Ich werde dir ganz genau zitieren, was er sagte. Er sagte ›Dostojewskij Tag und Nacht‹.«
»Fantastisch.«
»Und ich erzählte ihm, dass ich zufällig gerade eine Menge Gedichte gelesen hätte, und just vor ein paar Tagen eins mit einer Zeile drin, die ich noch wüsste. ›Wie Mitternacht in Dostojewskij.‹«
»Was sagte er?«
»Nichts.«
»Liest er Dostojewskij im Original?«
»Ichhabe nicht danach gefragt.«
»Überleg mal. Ich kann’s mir irgendwie vorstellen.«
Es gab eine Pause, und dann sagte sie, sie würde von der Uni abgehen. Ich dachte über Ilgauskas in dem Diner nach. Sie erzählte mir, sie fühle sich nicht wohl hier, ihre Mutter würde immer sagen, das könne sie sehr gut, unglücklich sein. Sie wolle nach Westen, sagte sie, nach Idaho. Ich sagte nichts. Ich saß da, die Hände überm Gürtel gefaltet. Sie ging ohne Mantel. Ihr Mantel hing wahrscheinlich an der Garderobe im Erdgeschoss.
Während der Winterferien blieb ich auf dem Campus, als einer von wenigen. Wir nannten uns Die Zurückgebliebenen und sprachen gebrochenes Englisch. Zu der Nummer gehörten auch Zombiehaltungen des Körpers, Schielen und Herumtaumeln, und es dauerte einen halben Tag, bis wir alle genug davon hatten.
Im Fitnessstudio machte ich meine öden großen Schritte auf dem Crosstrainer und versank immer wieder in Gedanken. Idaho, dachte ich. Idaho, das Wort, so vokalig und dunkel. War es denn hier, wo wir waren, nicht dunkel genug für sie?
In den Ferien war die Bibliothek leer. Ich kam mit einer Schlüsselkarte hinein und nahm einen Roman von Dostojewskij aus dem Regal. Ich legte das Buch auf einen Tisch, schlug es auf und beugte mich dann über die aufgeschlagenen Seiten, lesend und atmend. Wir schienen einander zu assimilieren, die Figuren und ich, und als ich den Kopf wieder hob, musste ich mir selbst sagen, wo ich war.
Ich wusste, wo mein Vater war – in Beijing, wo er versuchte, seine Wertpapierhandelsfirma in das chinesische Jahrhunderthineinzukeilen. Meine Mutter ließ sich treiben, vermutlich auf den Florida Keys mit einem früheren Lover namens Roald. Mein Vater sprach das Roh-Aal aus, wie etwas, das man mit geschlossenen Augen isst.
Wenn Schnee fiel, erschien die Stadt übergeistert, zuweilen totenstill. Ich machte beinahe jeden Nachmittag einen Spaziergang, und der Mann mit der Kapuze geriet mir nie ganz aus dem Sinn. Ich ging die Straße, wo er wohnte, auf und ab, und es kam mir nur passend vor, dass er sich nicht blicken ließ. Das gehörte zu den wesentlichen Eigenschaften dieses Ortes. Allmählich waren mir diese Straßen innig vertraut. Ich war ich selbst dort, in der Lage, Dinge an und für sich wahrzunehmen, weit entfernt von dem einzigen Leben, das ich bislang kennengelernt hatte, in der City, in Stapeln und Schichten und mit eintausend Bedeutungen pro Minute.
In der verkümmerten Geschäftsstraße des Städtchens hatten nur drei Geschäfte noch nicht dichtgemacht, eins davon war der Diner, und ich aß dort einmal, steckte zwei- oder dreimal den Kopf durch die Tür und suchte die Nischen ab. Der Bürgersteig bestand aus altem, pockennarbigem Basaltpflaster. In dem Minimarkt kaufte ich einen Schokoriegel und unterhielt mich mit der Frau hinter der Theke über die Niereninfektion der Frau ihres Sohnes.
In der Bibliothek verschlang ich ungefähr einhundert Seiten pro Sitzung, in kleiner, enger Schrift. Wenn ich das Gebäude verließ, blieb das Buch auf dem Tisch liegen, aufgeschlagen auf der Seite, wo ich zu lesen aufgehört hatte. Ich kam am nächsten Tag zurück, und das Buch war noch immer da, aufgeschlagen auf derselben Seite.
Warum kam mir das magisch vor? Warum lag ich manchmalim Bett, Sekunden vorm Schlaf, und dachte an das Buch in dem leeren Raum, aufgeschlagen auf der Seite, wo ich zu lesen aufgehört hatte?
In einer dieser Mitternächte, kurz bevor der Unterricht wieder anfing, stand ich aus dem Bett auf und ging den
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