Der Engel Esmeralda
ihrer Fahrt, die Leben da drinnen.
Ich hatte Zeit, solche Dinge zu bemerken, Zeit zum Nachdenken. Eine tödliche Angelegenheit, das Nachdenken, selbst in der niedrigsten Sicherheitsstufe, wo Ablenkungen möglich sind und es Tore zur früheren Welt gibt. Das Fußballspiel der Insassen auf dem verlassenen Highschool-Sportplatz jenseits der Brücke war eine luftige Abwechslung vom Alltag, ohne Zwänge und Gedränge von Essensschlangen, Appellen, Vorschriften, Nachdenken. Die Spieler fuhren mit dem Bus, die Zuschauer gingen zu Fuß, die Autos zischten unter der Brücke hindurch.
Ich lief neben einem Mann namens Sylvan Telfair her, groß, kahl, pathosgetränkt, er war ein internationaler Banker, der mit exklusiven Produkten der Offshore-Finanzierung gehandelt hatte.
»VerfolgenSie Fußball?«
»Ich verfolge gar nichts«, sagte er.
»Lohnt sich aber doch, da zuzuschauen, unter den Umständen, oder? Ist jedenfalls mein Gefühl.«
»Ich verfolge gar nichts«, sagte er.
»Ich heiße Jerold.«
»Sehr gut«, sagte er.
Das Lager war nicht von Steinmauern oder Klingendraht umschlossen. Die einzige Umzäunung bestand aus einem pittoresken Machwerk, einer Reihe alter Holzpfosten, die durchhängende Latten stützten. Es gab vier Schlafsäle mit abgeteilten Stockbetten, Toiletten und Duschen. Es gab mehrere Gebäude zur Insasseneinweisung, für Verpflegung, ärztliche Versorgung, TV, Fitnesstraining, Familienbesuche und anderes. Es gab Ehepartnerstunden für die derart Unterjochten.
»Sie können mich Jerry nennen«, sagte ich.
Ich wusste, dass Sylvan Telfairs Antrag auf eine spezielle Haft-Suite mit Audiosystem, eigenem Bad, Raucherprivilegien und einem Toaster abgelehnt worden war. Es gab in unserem Lager nur vier davon, und der Mann schien, allein durch seine Haltung, seine emotionale Distanziertheit und seinen diskreten Schmerz, einen Anspruch auf besondere Rücksichtnahme zu haben. Im Schlafsaal hängen geblieben, dachte ich. Das musste ihm wie lebenslänglich vorgekommen sein, wie ein Keil hineingetrieben in die neun Jahre, die er aus der Schweiz oder Liechtenstein oder von den Cayman-Inseln mitgebracht hatte.
Ich wollte etwas über die Methoden dieses Mannes erfahren, die Größenordnung seiner Verbrechen, aber ich scheute vor der Frage zurück, und er hätte mir bestimmt nicht geantwortet.Ich war erst seit zwei Monaten hier und immer noch damit beschäftigt herauszufinden, wer ich in dieser Umgebung sein wollte, wie ich stehen, sitzen, gehen, reden sollte. Sylvan Telfair wusste, wer er war. Er war ein weit ausschreitender Mann in einem gut gebügelten Overall und makellosen weißen Turnschuhen, deren Schnürsenkel seltsam hinter den Knöcheln gebunden waren, ein Mann, der förmlich abwesend war bei jedem seiner Worte, jeder seiner Gesten.
Als wir den Rand des Lagerkomplexes erreicht hatten, war der Verkehrslärm nur noch ein Rauschen in den Baumwipfeln.
Mit elf, zwölf Jahren lernte ich das Wort Phantasma kennen. Ein großartiges Wort, fand ich, und ich wollte phantasmatisch sein, jemand, der in die körperliche Wirklichkeit hineinschlüpft und wieder hinaus. Jetzt bin ich hier, ein schwebender Fiebertraum, aber wo ist der Rest hin, die dichte Umgebung, die Sache mit Gewicht und Gestalt? Es gibt einen Mann hier, der bemüht sich, ein Schriftgelehrter zu sein. Sein Kopf ist extrem zu einer Seite gebeugt, liegt fast auf seiner linken Schulter, das kommt von einem namenlosen Leiden. Ich bewundere den Mann, ich würde gern mit ihm sprechen, dabei würde ich meinen Kopf leicht neigen, mich sicher fühlen in den Tiefen seiner Gelehrsamkeit, den Sprachen, Kulturen, Dokumenten, Ritualen. Und der Kopf selbst, gibt es hier irgendetwas Wirklicheres als das?
Dann ist da ein anderer, der überall hinrennt, sie nennen ihn den Blöden Läufer, aber er tut etwas Beharrliches und Wahres, was mit unseren alltäglichen Vorschriften nichts zu tun hat. Er hat einen Herzschlag, einen rasenden Puls. Und danndie Spieler, Männer, die heimlich Footballwetten abschließen und die ganze Woche nebenher über nichts anderes als Punktedifferenzen reden, von Bett zu Bett, Mahlzeit zu Mahlzeit, Eagles minus vier, Rams machen achteinhalb. Verwetten die virtuelles Geld? Man braucht sich nur neben sie zu stellen, wenn sie reden, und es wird wirklich, zum Anfassen, und sie genauso, mit opernhaften Gesten und neonleuchtenden Zahlen in der Luft.
Fernsehen konnten wir in einem der Gemeinschaftsräume. Da hing ein großer Bildschirm an der Wand,
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