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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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scheine ich mit großer Aufmerksamkeit geführt zu haben. Ich bin neununddreißig Jahre alt, eine Generation entfernt von einigen der Insassen hier, und ich kann mich nicht erinnern, wie es war, als ich noch wusste, warum ich das tat, was mich hierhergebracht hat. Es gab einmal eine Zeit im frühen englischen Recht, da wurde ein Verbrechen dadurch bestraft, dass dem Verbrecher ein Körperteil abgeschnitten wurde. Wäre das ein Anreiz für das Gedächtnis der Moderne?
    Ich stelle mir vor, für immer hier zu sein, es fühlt sich längst so an, wieder mal eine Mahlzeit mit dem Politikberater, der seinen Daumen anleckt, um Brotkrümel vom Teller zu klauben und sie anzustarren, wieder mal in der Schlange hinter dem Investmentbanker, der laute Selbstgespräche auf Mandarin führt (Anfängerniveau). Ich denke an Geld. Was wusste ich davon, wie sehr brauchte ich es, was hatte ich damit vor, wenn ich es bekommen würde? Dann denke ich an Sylvan Telfair, der so zurückhaltend ist in seiner Gier, der Milliarden-Euro-Profit lässt sich nämlich von den Dingen trennen, die man damit kaufen kann, Geld istein kodierter, ideeller Impuls, eine Art diskreter Erektion, von der nur der Mann weiß, dessen Hosen in Flammen stehen.
    »Die Angst wächst weiter.«
    »Angst vor Zahlen, Angst vor grassierenden Verlusten.«
    »Die Angst ist Dubai. Das Gesprächsthema ist Dubai. Dubai hat die Schulden. Sind es 58 Milliarden Dollar oder 80 Milliarden Dollar?«
    »Banker laufen Marmorböden blank.«
    »Oder sind es 120 Milliarden Dollar?«
    »Scheichs starren in den dunstigen Himmel.«
    »Selbst die Zahlen verfallen in Panik.«
    »Denken Sie an die prominenten Investoren. Hollywoodstars. Berühmte Footballspieler.«
    »Denken Sie an Inseln in Palmenform. Leute, die in einer Shoppingmall skilaufen.«
    »Das einzige Sieben-Sterne-Hotel der Welt.«
    »Das höchstdotierte Pferderennen der Welt.«
    »Das höchste Gebäude der Welt.«
    »All das gibt es in Dubai.«
    »Höher als das Empire State Building und das Chrysler Building zusammen.«
    »Zusammen.«
    »Schwimmen Sie im Pool im 76. Stock. Beten Sie in der Moschee im 158. Stock.«
    »Aber wo ist das Öl?«
    »Dubai hat kein Öl. Dubai hat Schulden. Dubai hat eine große Anzahl Gastarbeiter und keine Arbeit für sie.«
    »Riesige Bürogebäude stehen leer. Wohnhäuser, unvollendet im fliegenden Sand. Denken Sie an den fliegenden Sand. Sandstürme,dass man die Landschaft nicht mehr sieht. Leere Ladenflächen überall.«
    »Aber wo ist das Öl?«
    »Das Öl ist in Abu Dhabi. Sag den Namen.«
    »Abu Dhabi.«
    »Und jetzt zusammen.«
    »Abu Dhabi«, sagten sie.
    Feliks Zuber, der älteste Insasse des Lagers, hatte die Kindersendung ausgesucht. Feliks saß jetzt jeden Tag hier, erste Reihe Mitte, eine Strafe von siebenhundertzwanzig Jahren auf dem Buckel. Er drehte sich gern um und nickte den in seiner Nähe Sitzenden zu, und tat manchmal so, als wolle er applaudieren, ohne dass seine zitternden Hände sich berührten; ein kleiner, zerknitterter Mann, der fast so alt aussah, als würde er demnächst das Ende seiner Strafe erleben, getönte Brille, lila Overall, todesschwarz gefärbte Haare.
    Die Länge seiner Strafe beeindruckte alle anderen. Das Strafmaß hatte er für seine meisterliche Einfädelung eines betrügerischen Investitionsplans bekommen, der vier Länder betroffen und zum Zusammenbruch von zwei Regierungen und drei Konzernen geführt hatte, wobei ein großer Teil des Geldes in Waffenlieferungen an die Rebellen einer aufständischen Enklave im Kaukasus geflossen war.
    Die Tragweite seiner Verbrechen erforderte eigentlich eine wesentlich strengere Umgebung, aber er war in unser Lager verlegt worden, weil er von Krankheiten zerfressen war und seine Zukunft sich in Wochen und Tagen messen ließ. Manchmal wurden Männer hierhergeschickt, um unter weniger schweren Bedingungen zu sterben. Wir konnten es ihnen ansehen, vor allem an den Gesichtern, dem eingeschränktenBlick, den nachlassenden Sinneswahrnehmungen, der Stille, die sie mitbrachten, der weltabgewandten Art, als wären sie durch ein Gelübde gebunden. Feliks war nicht still. Er lächelte, winkte, hüpfte und zitterte. Er saß auf der Stuhlkante, wenn die Mädchen neueste Nachrichten von fallenden Märkten und ökonomischer Schockstarre einzelner Länder verlasen. Er war ein Mann, der einer uralten Binsenweisheit bei ihrer Entfaltung auf einem Breitbildfernseher zusah. Er würde die Welt mitnehmen, wenn er starb.
    Der Fußballplatz

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