Der Engel Esmeralda
bestimmte Kanäle waren blockiert, und die Sendungen wurden von einem der älteren Insassen ausgewählt, jeden Monat von einem anderen. An diesem Tag waren von den ungefähr achtzig Klappstühlen, die in leicht geschwungenen Reihen standen, nur fünf besetzt. Ich wollte mir etwas ganz Bestimmtes ansehen, eine nachmittägliche Nachrichtensendung von fünfzehn Minuten Dauer auf einem Kinderkanal. Ein Teil bestand aus einem Bericht vom Aktienmarkt. Zwei Mädchen informierten tiefernst und amateurhaft über die Börsenbewegungen des Tages.
Ich war der Einzige, der sich die Sendung anschaute. Die anderen Insassen hockten halb betäubt mit gesenkten Köpfen da. Das hatte mit der Tageszeit zu tun, der Jahreszeit, die Dämmerung war schon fast hereingebrochen, das depressive Gespenst des letzten Lichts huschte über die länglichen Fenster oben an einer Wand. Die Männer saßen weit voneinander entfernt, sie waren hergekommen, um allein zu sein. Das hier war der Aufruf zur Selbstprüfung, zur nachträglichen Kritik an einem verlorenen Leben, ebenso verpflichtend wie der Ruf des Gläubigen zum Gebet.
Ichsah und hörte zu. Die Mädchen waren meine Töchter, Laurie und Kate, zehn und zwölf. Ihre Mutter hatte mir knapp per Telefon mitgeteilt, dass die beiden ausgewählt worden seien, an einer solchen Sendung mitzuwirken. Keine weiteren Einzelheiten, sagte sie, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, so als berichtete sie selbst von einem Nachrichtentisch aus, in einem Studio, das vor lauter Spannungen hinter den Kulissen nur so brummte.
Ich saß allein in der zweiten Reihe, und da waren sie, zu zweit an einem Tisch, und redeten von den Prognosen für das letzte Quartal, erst das eine Mädchen, dann das andere, nur ein paar Sätze jeweils, Bonität, Kreditnachfrage, Technologiesektor, Haushaltsdefizit. Die Bildqualität erinnerte an selbst produzierte Online-Videos. Ich versuchte, Abstand zu gewinnen, die Mädchen als ferne Anspielungen auf meine Töchter zu sehen, in zappligem Schwarz-Weiß. Ich studierte sie. Ich beobachtete. Sie lasen ihre Sätze von Blättern ab, die sie in der Hand hielten, und wenn die eine an die andere abgab, blickte sie von ihren Notizen auf.
Wirkte das verrückt, ein Börsenmarktreport für Kinder? Der Kommentar hatte nichts Niedliches oder Reizendes. Die Mädchen spielten keine Erwachsenen. Sie waren seriös, flochten ab und zu Definitionen und Erklärungen in die Nachrichten ein, und dann huschte bei Lauries Bemerkungen zum NASDAQ – Composite ein Anflug von Panik durch ihren Blick – ein vernuscheltes Wort, ein fehlender Satz. Ich sah den Bericht als Teststrecke für eine kaum bekannte Sendung auf einem obskuren Kabelkanal. Vermutlich nicht verrückter als das meiste im Fernsehen, und überhaupt, wer sah sich das schon an?
MeinStockbettpartner trug Socken zum Schlafen. Er steckte seine Schlafanzug-Hosenbeine in die Socken und legte sich auf seine Matratze, Knie angezogen, Hände hinterm Kopf.
»Ich vermisse meine Wände«, sagte er.
Er hatte das untere Bett. Das war eine nicht ganz unbedeutende Angelegenheit im Lager, oben oder unten, wer kriegt was, genau wie in jedem Gefängnisfilm, den wir je gesehen hatten. Norman war mir in Alter, Erfahrung, Ego und abgesessener Zeit überlegen, und ich hatte keinen Grund, mich zu beschweren.
Ich wollte ihm schon sagen, dass wir alle unsere Wände vermissten, unsere Fußböden und Decken. Aber ich setzte mich und wartete darauf, dass er fortfuhr.
»Ich habe immer dagesessen und geschaut. Erst eine Wand, dann die nächste. Nach einer Weile bin ich aufgestanden und durch die Wohnung gegangen, langsam, und habe mir eine Wand nach der anderen angeschaut. Sitzen und anschauen, aufstehen und anschauen.«
Er wirkte wie in Trance, schien eine Gutenachtgeschichte aufzusagen, die er als Kind gehört hatte.
»Du warst Kunstsammler, richtig?«
»Richtig, das war ich, Betonung auf Vergangenheit, ich war Sammler. Oberste Museumsliga.«
»Das hast du nie erwähnt«, sagte ich.
»Wie lang bin ich jetzt schon hier? Das sind inzwischen die Wände von jemand anders. Die Kunst ist in alle Winde zerstreut.«
»Du hattest Berater, Kunstmarktexperten.«
»Es kamen immer Leute und schauten sich meine Wände an. Aus Europa, Los Angeles, ein Japaner von irgendeiner Stiftung in Japan.«
Erblieb eine Weile stumm, erinnerte sich. Ich merkte, wie ich in seine Erinnerungen einstieg. Der japanische Mann nahm Gesichtszüge an, eine bestimmte Größe und Gestalt, korpulent, wie es
Weitere Kostenlose Bücher