Der Engel Esmeralda
schien, heller Anzug, dunkle Krawatte.
»Sammler, Kuratoren, Studenten. Sie kamen und schauten«, sagte er.
»Wer hat dich beraten?«
»Ich hatte eine Frau auf der 57. Straße. Dann einen Typen in London, Colin, der wusste alles über die Postimpressionisten. Lieber netter Kerl.«
»Das meinst du nicht ernst.«
»So sagt man das doch. Einer dieser Ausdrücke, die so klingen, als würde jemand anders reden. Lieber netter Kerl.«
»Liebende Ehefrau und Mutter.«
»Ich freute mich, dass sie alle schauen wollten. Alle miteinander«, sagte er. »Ich habe immer zusammen mit ihnen geschaut. Wir gingen von einem Bild zum nächsten, von Zimmer zu Zimmer. Ich hatte ein Haus im Hudson-Tal, noch mehr Bilder, ein paar Skulpturen. Im Herbst bin ich immer hingefahren, wegen der Farben. Aber ich hab dann kaum aus dem Fenster geschaut.«
»Du hattest die Wände.«
»Ich konnte den Blick nicht von den Wänden lassen.«
»Und dann musstest du verkaufen.«
»Alles, bis zum allerletzten Stück. Strafen bezahlen, Schulden bezahlen, Anwälte bezahlen, Familie versorgen. Hab meiner Tochter eine Radierung geschenkt. Eine verschneite Nacht in Norwegen.«
Norman vermisste seine Wände, aber er war nicht unglücklich hier. Er sei zufrieden, sagte er, gelöst, losgelöst, weit weg. Frei von den aufgeblähten Bedürfnissen und Forderungenanderer und vor allem nicht mehr verstrickt in seine eigenen Antriebe, seine Gier, den lebenslangen Auftrag zu akkumulieren, zu expandieren, sich aufzubauen, eine Hotelkette zu kaufen, sich einen Namen zu machen. Hier sei er mit sich im Frieden, sagte er.
Ich lag auf dem oberen Bett, Augen geschlossen, hörte zu. Überall im Gebäude lagen Männer in den abgeteilten Stockbetten, einer redend, der andere zuhörend, beide schweigend, einer schlafend, Steuerhinterziehung, Alimenteschulden, Insidergeschäfte, Meineid, Hedgefonds-Verbrechen, Postbetrug, Hypothekenbetrug, Versicherungsbetrug, Buchhaltungsbetrug, Strafvereitelung.
Es sprach sich allmählich herum. Am dritten Tag waren die meisten Stühle im Gemeinschaftsraum belegt, und ich musste mich mit einem Platz fast am Ende der fünften Reihe begnügen. Auf dem Bildschirm berichteten die Mädchen von einer Situation in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die immer schneller eskalierte.
»Stichwort Dubai.«
»Dieses Wort überquert Kontinente und Ozeane in erschreckender Lichtgeschwindigkeit.«
»Die Märkte stürzen ab.«
»Paris, Frankfurt, London.«
»Dubai hat die höchsten Schulden pro Einwohner auf der Welt«, sagte Kate. »Und jetzt, wo der Bauboom eingebrochen ist, kann das Land seine Schulden bei den Banken nicht begleichen.«
»Dubai schuldet den Banken 58 Milliarden Dollar«, sagte Laurie.
»Plusminus ein paar Milliarden.«
»Der DAX in Deutschland.«
»Über drei Prozent gefallen.«
»Die Royal Bank of Scotland.«
»Über vier Prozent gefallen.«
»Stichwort Dubai.«
»Der schuldengeplagte Stadtstaat bittet die Banken um eine sechsmonatige Stundung der fälligen Zahlungen.«
»Dubai«, sagte Laurie.
»Die Kosten, Dubais Schulden gegen Zahlungsverzug zu versichern, sind auf das Zwei-, Drei-, Vierfache gestiegen.«
»Wissen wir, was das heißt?«
»Es heißt, der Dow-Jones-Index fällt, fällt, fällt.«
»Deutsche Bank.«
»Fällt.«
»London – der FTSE – 100-Index.«
»Fällt.«
»Amsterdam – ING Groep.«
»Fällt.«
»Der Hang Seng in Hongkong.«
»Rohöl. Islamic Bonds.«
»Alles fällt, fällt, fällt.«
»Stichwort Dubai.«
»Sag es.«
»Dubai«, sagte Kate.
Das alte Leben schreibt sich jede Minute neu. In vier Jahren werde ich immer noch hier sein und entsetzlich strampeln, umgeben von all diesem tristen Müll. Eine Zukunft in Freiheit ist schwer vorstellbar. Es fällt mir schwer genug, die Umrisse der erfassbaren Vergangenheit nachzuzeichnen. Es gibt keinunerschütterliches Element, keinen Glauben, keine Wahrheit, außer den Mädchen, die geboren wurden, größer werden, leben.
Wo war ich, als das passierte? Ich erwarb bedeutungslose Universitätsabschlüsse, erklärte Studienanfängern die Dynamik von Reality- TV . Ich änderte die Schreibweise meines Vornamens in Jerold. Ich benutzte Zeige- und Mittelfinger, um Anführungszeichen um manche meiner ironischen Kommentare zu setzen, gelegentlich auch nur die Zeigefinger, wenn ich ein Zitat innerhalb eines Zitats absetzen wollte. So war dieses Leben, es verspottete sich selbst, und weder die Ehe noch die Firma, die ich für kurze Zeit leitete,
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