Der Engel Esmeralda
Gefängniszellen verbracht hatte, in Einzelhaft und schließlich im Todestrakt, für einen Mord oder zwei oder viele, wo waren wir jetzt, und was hatten wir getan, dassman uns hier reingesteckt hatte? Erinnerten wir uns überhaupt an unsere Verbrechen? Konnten wir sie Verbrechen nennen? Sie waren Gesetzeslücken, Hinterziehungen, schleimerische Kavaliersdelikte.
Einige von uns, diejenigen mit geringerem Selbsthass, nickten einfach nur, zollten dem Mann Respekt für die Würde, die er dem Augenblick verliehen hatte, und auch für den provinziell-poetischen Klang seiner Worte. Als ich die Geschichte zum dritten Mal hörte oder mit anhörte, lag das Gefängnis unzweifelhaft in Texas. Die anderen Orte konnten wir vergessen – der Mann, die Geschichte und das Gefängnis gehörten alle nach Texas. Wir waren woanders und sahen eine Kindersendung im Fernsehen.
»Was steckt hinter Hammer und Sichel?«
»Heißt gar nichts. Wörter«, sagte ich. »Wie Abu Dhabi.«
»Der Hang Seng in Hongkong.«
»Genau.«
»Die Mädchen sagen das gerne. Hammer und Sichel.«
»Hammer und Sichel.«
»Abu Dhabi.«
»Abu Dhabi.«
»Hang Seng.«
»Hongkong«, sagte ich.
So machten wir eine Weile weiter. Norman murmelte die Namen immer noch vor sich hin, als ich die Augen schloss und die große Kurve Richtung Schlaf nahm.
»Aber ich glaube, sie meint es ernst. Ich glaube, sie will genau das rüberbringen. Hammer und Sichel«, sagte er. »Sie ist eine ernsthafte Frau, die etwas klarmachen will.«
Ichstand da und sah aus der Entfernung zu. Sie passierten den Metalldetektor, einer nach dem anderen, und gingen auf das Besucherzentrum zu, die Frauen und Kinder, die treuen Freunde, die Geschäftspartner, die Anwälte, sie alle setzten sich hin und hörten in vertraulicher Atmosphäre den Insassen zu, die sie aus zugekniffenen Augen anstarrten und sich über das Essen beschwerten, die Arbeitszuteilungen, die viel zu seltenen Strafminderungen.
Alles wirkte flach. Die Besucher auf dem Fußweg bewegten sich langsam und einfarbig. Der Himmel war kaum da, entleert von Licht und Wetter. Die Familien waren warm eingepackt und bleich, aber ich spürte die Kälte nicht. Ich stand draußen vor den Schlafsälen, aber ich hätte überall sein können. Ich stellte mir eine Frau vor, die zwischen den anderen dort entlangging, sie war schlank und dunkelhaarig, unbegleitet. Ich weiß nicht, wo sie herkam, von einem Foto, das ich mal gesehen hatte, oder aus einem Film, einem französischen vielleicht, der in Südostasien spielte, Sex unter einem Deckenventilator. Hier trug sie eine lockere Hose und darüber eine lange weiße Tunika. Sie gehörte in einen anderen Kontext, so viel war klar, aber ich brauchte mich nicht zu fragen, was sie hier zu suchen hatte. Sie war aus meinem schläfrigen Geist aufgestiegen oder vom tief hängenden Himmel gefallen.
Es gab einen Namen für die Kleidung, die sie trug, und ich wusste es beinahe, hatte es beinahe, dann entglitt es mir wieder. Aber die Frau war immer noch da, in hellen Sandalen, die Tunika an den Seiten geschlitzt, mit einem zarten Blumenmuster vorne und hinten.
Der Deckenventilator drehte sich langsam in der schweren Hitze, ein Gedanke, den ich weder wollte noch brauchte, abernun war er da, mehr ein Gedanke als ein Bild, Jahre zurückreichend.
Wer war der Mann, den sie hier besuchen wollte? Ich erwartete keine Besucher, wollte auch keine, nicht einmal meine Töchter, ich fand’s nicht richtig, dass sie mich hier sahen. Sie waren sowieso 3000 Kilometer entfernt und hatten anderes zu tun. Konnte ich die Frau in meine unmittelbare Nähe platzieren, direkt gegenüber an einen Tisch in dem großen offenen Raum, der sich bald mit Insassen, Frauen und Kindern füllen würde, mit einem Wärter an einem erhöhten Schreibtisch, der alles überwachte?
Eines wusste ich. Der Name ihrer Kleidung bestand aus zwei Worten, kurzen Worten, und ich hätte das Gefühl, der Tag hätte sich gelohnt, die ganze Woche, wenn ich mich an diese Worte erinnern könnte. Was gab es sonst auch zu tun? Worüber konnte ich sonst nachdenken und einigermaßen das Gefühl bekommen, etwas geschafft zu haben?
Vietnamesisch – die Worte, die Tunika, die Hose, die Frau.
Dann fiel mir Sylvan Telfair ein. Er war der Insasse, den sie hier besuchte. Sie waren sich in Paris oder Bangkok begegnet. Sie hatten abends auf einer Terrasse gestanden, Wein getrunken und Französisch gesprochen. Er war kultiviert und selbstsicher und gleichzeitig etwas
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