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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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drin, und das war auch besser so. Ich wollte nicht, dass mich die Männer im Schlafsaal anstarrten, mit mir redeten, davon im ganzen Lager herumerzählten. Ich lernte gerade, wie man verschwand. Es passte zu mir, es war mein natürlicher Zustand, wieder phantasmatisch zu werden, Tag für Tag.
    Besser nicht von den Mädchen reden.
    Und dann tat ich es doch, ruhig, sechs oder sieben Worte. Gefolgt von einer langen Pause. Er hatte ein rundes Gesicht, Norman, mit einer platten Nase, und sein buschiges Haar wurde langsam grau.
    »Das hast du nie gesagt, Jerry.«
    »Nur unter uns.«
    »Du sagst nie was.«
    »Nur dir. Keinem sonst. Es ist wahr«, sagte ich. »Kate und Laurie. Ich sitze da und sehe ihnen zu und kann kaum begreifen, wie es dazu gekommen ist. Was machen sie da, was mache ich hier? Ihre Mutter schreibt die Berichte. Das hat sie mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es. Sie ist der Kopf hinter der ganzen Sache.«
    »Wie ist sie so, ihre Mutter?«
    »Wir sind offiziell getrennt.«
    »Wie ist sie so?«, fragte er.
    »Ziemlich clever, messerscharf. Raffiniert attraktiv. Man muss aufpassen, damit man’s erkennt.«
    »Du liebst sie immer noch? Ich glaube, ich habe meine Frau nie geliebt. Nicht in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes.«
    Ich fragte ihn nicht, was er damit meinte.
    »Hat deine Frau dich geliebt?«
    »Siehat meine Wände geliebt«, sagte er.
    »Ich liebe meine Kinder.«
    »Du liebst auch ihre Mutter. Das spüre ich«, sagte er.
    »Von wo? Vom unteren Bett aus? Du kannst ja nicht mal mein Gesicht sehen.«
    »Ich hab dein Gesicht gesehen. Was gibt’s da zu sehen?«
    »Wir sind auseinandergebrochen. Auseinandergelebt ist nicht das richtige Wort, auseinandergebrochen.«
    »Erzähl mir nicht, dass ich unrecht habe. Ich spüre so etwas. Ich lese so etwas heraus«, sagte er.
    Ich starrte die Decke an. Es regnete seit Stunden, und ich glaubte den Verkehrslärm vom nassen Highway zu hören, die Autos, die unter der Überführung durchrasten, die Fahrer, die sich in die Nacht beugten und versuchten, die Straße bei jeder Kurve, jedem Knick zu lesen.
    »Ich sag dir, wie das ist. Sie spielen ein Spiel, so ist das«, sagte er. »Die Namen, die sie alle aufsagen. Der Hang Seng in Hongkong. Das finden Kinder witzig. Und wenn Kinder es sagen, finden wir es witzig. Wetten, dass eine Menge Kinder diesen Bericht sehen? Und nicht weil er auf einem Kinderkanal läuft. Sondern weil er witzig ist. Was zum Henker ist der Hang Seng in Hongkong? Ich weiß es nicht. Weißt du’s?«
    »Ihre Mutter weiß es.«
    »Ganz bestimmt. Sie weiß auch, dass das ein Spiel ist, alles. Und alles witzig. Du hast Glück«, sagte er. »Tolle Kinder.«
    Zufrieden hier, das war Norman. Wir sind nicht im Gefängnis, sagte er gern. Wir sind im Lager.
    Mit der Zeit beruhigte sich die Situation in der Golfregion wieder. Abu Dhabi stellte eine 10-Milliarden-Dollar-Bürgschaft,und bald zog relative Ruhe ein in der Gegend und über die digitalen Netzwerke dann auch auf den Märkten allerorts. Das führte zu einer gewissen Enttäuschung im Gemeinschaftsraum. Obwohl die Mädchen in ihrer Leistung immer besser wurden und sich immer ernsthafter vorbereiteten, kam keine große Anzahl Zuschauer mehr, und schließlich waren wir nur noch ein paar Versprengte, hier und da, schläfrig und nachdenklich.
    Wir hatten Fernsehen, aber was hatten wir verloren, wir alle, als wir ins Lager kamen? Wir hatten unsere Anhängsel verloren, unsere Verlängerungen, die Datensysteme, die uns speisten und reinigten. Wo war die Welt, unsere Welt? Die Laptops waren weg, die Smartphones und Lichtsensoren und Megapixel. Unsere Hände und Augen brauchten mehr, als wir ihnen jetzt geben konnten. Die Touchscreens, die Mobile Platforms, die freundlichen Klingeltöne zur Erinnerung an einen Termin oder eine Abflugzeit oder eine Frau irgendwo in einem Zimmer. Und das jetzt verloren gegangene Gefühl, das stille Bewusstsein, dass etwas Neueres, Smarteres, Schnelleres, immer Schnelleres nur ein Vogelflattern entfernt war. Genauso verloren gegangen war die Technophobie, die diese Geräte routinemäßig mit sich brachten. Aber wir brauchten sie ebenso sehr wie die Geräte selbst, all den innewohnenden Stress, die Vorsichtsmaßnahmen und Frustrationen. Waren die für unsere Denkweise nicht grundlegend? Die Aussicht auf fehlgeschlagene Signale und abgestürzte Systeme, aufzuladende Speicher und mit ein paar Klicks gestohlene Identitäten. Information war alles, reinkommend, rausgehend. Wir

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