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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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waren immer drin, wollten drin sein, mussten drin sein, aber das war jetzt Geschichte, der Schatten eines anderen Lebens.
    Okay,wir waren erwachsen, keine großäugige zusammengeschweißte Kinderbande, und das hier war auch kein Internet-Rettungslager. Wir lebten in einer realen Umgebung, suchtfrei, jeder tödlichen Abhängigkeit enthoben. Aber wir waren verlassen. Wir waren matschig, zusammengesackt. Darüber sprachen wir selten, es war schwer abzuschütteln. Es gab kleine Momente der Muße, in denen wir genau wussten, was uns fehlte. Wir saßen auf der Toilette, abgezogen, fertig, und starrten unsere leeren Hände an.
    Ich hätte mich gern an jedem Wochentag um vier Uhr nachmittags vor dem Fernseher eingefunden, zu dem Börsenbericht, aber ich schaffte es nicht immer. Ich gehörte zu einem Arbeitstrupp, der an bestimmten Tagen mit dem Bus auf die angrenzende Air-Force-Basis gebracht wurde, wo wir abschliffen, lackierten, allgemeine Wartungsarbeiten erledigten, Müll abfuhren und manchmal einfach nur dastanden und zusahen, wenn ein Kampfjet die Startbahn entlangdonnerte und der niedrig stehenden Sonne entgegen stieg. Es war wunderschön anzusehen, das Aufsteigen eines Flugzeugs, Räder eingeklappt, Flügel geneigt, das Licht, die Streifen am Himmel, zu dritt oder viert standen wir da, ohne ein Wort. War das der Augenblick, mehr als in tausend anderen Situationen, in dem uns das Ausmaß unseres Ruins mit schärfster Deutlichkeit bewusst wurde?
    »Ganz Europa schaut gen Süden. Was sehen sie da?«
    »Sie sehen Griechenland.«
    »Sie sehen finanzielle Instabilität, enorme Schuldenlast, möglichen Bankrott.«
    » Krisis ist ein griechisches Wort.«
    »VerbirgtGriechenland seine Staatsschulden?«
    »Breitet sich die Krise in Lichtgeschwindigkeit auf den Rest der südlichen Staaten aus, auf die Eurozone insgesamt, auf die aufstrebenden Märkte überall?«
    »Braucht Griechenland eine Sicherheitsgarantie?«
    »Wird Griechenland den Euro aufgeben?«
    »Hat Griechenland seine wahre Schuldenlage verborgen?«
    »Welche Rolle spielt die Wall Street in dieser kritischen Angelegenheit?«
    »Was ist ein Kreditausfall-Swap? Wann ist ein Staat bankrott? Was ist eine Zweckgesellschaft?«
    »Wir wissen es nicht. Wissen Sie es? Wollen Sie es wissen?«
    »Was ist die Wall Street? Wer ist die Wall Street?«
    Angespanntes Lachen aus einigen Nestern im Publikum.
    »Griechenland, Portugal, Spanien, Italien.«
    »Aktien stürzen weltweit ab.«
    »Der Dow, der NASDAQ , der Euro, das Pfund.«
    »Aber wo sind die Arbeitsniederlegungen, die Arbeitsverweigerungen, die Streikmaßnahmen?«
    »Schauen Sie auf Griechenland. Schauen Sie auf die Straßen.«
    »Aufruhr, Streik, Protest, Blockade.«
    »Ganz Europa schaut auf Griechenland.«
    » Chaos ist ein griechisches Wort.«
    »Gestrichene Flüge, brennende Fahnen, Steine fliegen in die eine Richtung, Tränengas wogt in die andere.«
    »Die Arbeiter sind wütend. Die Arbeiter marschieren.«
    »Klagt den Arbeiter an. Begrabt den Arbeiter.«
    »Friert seinen Lohn ein. Erhöht seine Steuern.«
    »Bestehlt den Arbeiter. Legt ihn flach.«
    »Kannjeden Tag passieren, wartet’s ab.«
    »Neue Flaggen, neue Transparente.«
    »Hammer und Sichel.«
    »Hammer und Sichel.«
    Ihre Mutter hatte die Mädchen angehalten, in einem ausgeglichenen Fluss zu sprechen, einer Kadenz. Sie lasen die Texte nicht nur ab, sie schauspielerten, setzten Gesichter auf, hatten richtig Spaß dabei. Legt ihn flach, hatte Kate gesagt. Wenigstens hatte ihre Mutter diesen ordinären Satz dem älteren Mädchen gegeben.
    Wurde der tägliche Marktbericht zu einem Performancestück?
    Den ganzen Tag lang kursierte eine Geschichte im Lager, von Gebäude zu Gebäude, Mann zu Mann. Sie drehte sich um einen zum Tode Verurteilten in Texas oder Missouri oder Oklahoma, und die letzten Worte, die er gesprochen hatte, bevor ein Mensch, staatlich autorisiert, ihm die tödliche Substanz injiziert oder den Strom eingeschaltet hatte.
    Die Worte lauteten, Reifen heizen und nicht mit dem Feuer geizen – ich geh heim .
    Einigen von uns lief es kalt den Rücken runter, als sie die Geschichte hörten. Beschämte sie uns? Kam uns dieser Mann am scharf gefeilten Rand seines letzten Atemzugs authentischer vor als wir selbst, ein echter Outlaw, der die brutalstmögliche, kompromissloseste Aufmerksamkeit des Staates verdient hatte? Sein Ende war offiziell abgesegnet, es war ein Akt, den manche begrüßten, andere bekämpften. Wenn er sein halbes Leben in

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