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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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widerstrebend, ein Mann, den sie vielleicht anziehend fand, auch wenn sie meine Idee war, meine heimliche seidige Vision.
    Ich stand da, beobachtete, dachte nach.
    Als mir die Worte einfielen, viel später am Tag, ao dai , da hatte ich schon jegliches Interesse an der Sache verloren.
    Man ordnete uns zu Gruppen, Clustern, Paaren; überall Männer in Schwärmen, sie füllten alle Lücken aus, bis an die Ränderdes Blickfelds. Ich betrachtete uns gern als Männer in einem maoistischen Selbstumerziehungslager, mit dem Ziel, uns durch Wiederholung als soziale Wesen zu perfektionieren. Wir arbeiteten, aßen und schliefen in mechanischer Routine, wöchentlich, täglich, stündlich, schritten allmählich von der Praxis zur Erkenntnis voran. Aber das waren bloß Grübeleien in Zeiten der Muße. Vielleicht waren wir nur ein tonnenschwerer Fleischhaufen, unser angesammeltes Fleisch in Stockbetten untergebracht, eingepfercht in Schlaf- und Speisesaalcontainern, reißverschlossen in Overalls in fünf Farben, klassifiziert, katalogisiert, diese Farbe für jene Art von Gesetzesverstoß. Die Farben hatten für mich ein komisches Pathos, allgegenwärtig, grellkontrastig, hervorstechend, überkreuz. Ich versuchte, uns nicht als Zirkusclowns zu sehen, die ihre Schminke vergessen hatten.
    »Du betrachtest sie als deine Feindin«, sagte Norman. »Du und sie, Feinde bis aufs Blut.«
    »Ich glaube nicht, dass das stimmt.«
    »Es ist nur natürlich. Du glaubst, sie benutzt die Mädchen gegen dich. Davon bist du überzeugt, tief drinnen, auch wenn du es nicht zugibst.«
    »Ich glaube nicht, dass das der Fall ist.«
    »Das muss der Fall sein. Sie attackiert dich, weil du beruflich Fehler gemacht hast. Was war dein Beruf? Wie hat er dich hierhergebracht? Ich glaube, das hast du nie gesagt.«
    »Es ist uninteressant.«
    »Wir sind nicht hier, um interessant zu sein.«
    »Ich habe eine Firma für einen Mann geleitet, der Firmen übernahm. Informationen gingen hin und her. Geld wanderte von Hand zu Hand. Anwälte, Händler, Berater, Seniorpartner.«
    »Werwar der Mann?«
    »Er war mein Vater«, sagte ich.
    »Wie heißt er?«
    »Er starb in aller Stille vor dem Ereignis.«
    »Vor welchem Ereignis?«
    »Dem Ereignis meiner Verurteilung.«
    »Wie heißt er?«
    »Walter Bradway.«
    »Kenne ich den Namen?«
    »Du kennst den Namen seines Bruders. Howard Bradway.«
    »Einer der Hedgefonds-Musketiere«, sagte er.
    Norman durchsuchte sein Gedächtnis nach visueller Bestätigung. Ich stellte mir vor, was er sich vorstellte. Er stellte sich meinen Onkel Howie vor, einen dicken, rotgesichtigen Mann mit bloßem Oberkörper, Pilotenbrille, Miniaturpudel in der Armbeuge. Ein ziemlich berühmtes Bild.
    »Eine Familientradition. Ja?«, sagte er. »Verschiedene Firmen, verschiedene Städte, verschiedene Zeitrahmen.«
    »Sie glaubten an Richtig und Falsch. Das Richtig und Falsch von Märkten, Portfolios, Insiderinformationen.«
    »Dann warst du dran, ins Geschäft einzutreten. Wusstest du, was du tatest?«
    »Ich war dabei, mich zu definieren. Das sagte mein Vater. Er sagte, Leute, die sich definieren müssen, gehören ins Lexikon.«
    »Weil du mir wie jemand vorkommst, der nicht immer weiß, was er tut.«
    »Ich wusste es ziemlich gut. Ich wusste es definitiv.«
    Ich hörte, wie Norman die improvisierte Zellophanabdeckung von seinem Gläschen Feigenmus abzog und dann seinenFinger benutzte, um das Zeug auf einen Salzcracker zu streichen. An Besuchstagen schmuggelte sein Anwalt ein Glas Dalmatiner Feigenmus ins Lager, ohne Metalldeckel. Norman sagte, er möge den Namen gern, Dalmatien, Dalmatiner, die Geschichte des Balkans, die Adria, große Hunde mit Flecken. Er möge die Vorstellung gern, etwas mit genau diesem Namen von genau diesem Ort zu essen, alles natürliche Inhaltsstoffe, ein paarmal pro Woche heimlich auf einem 08/15-Cracker aus der Cafeteria.
    Er sagte, sein Anwalt sei eine Anwältin und verberge die Feigenpaste irgendwo an ihrem Körper. Das war eine achtlos hingeworfene Bemerkung, monoton gebracht, nicht auf Glaubwürdigkeit bedacht.
    »Was ist deine Philosophie des Geldes?«
    »Ich habe keine«, sagte ich.
    »In einem Jahr habe ich einen Mordshaufen Geld verdient. In einem ganz bestimmten Jahr. Sagen wir, neunstellig, ohne Weiteres. Ich spürte, wie es meine Lebenserwartung um Jahre verlängerte. Geld lässt dich länger leben. Es sickert in den Blutstrom ein, in die Venen und Kapillaren. Ich habe mit meinem Hausarzt darüber geredet. Er meinte, ich

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