Der Engel Schwieg.
unverschämte Selbstverständlichkeit
und etwas unbeschreiblich Rührendes…
»Ja«, sagte er heiser; er spürte, daß er seine Stimme kaum ge- brauchen konnte, sie schien verschlissen zu sein, verschwunden. Sie beugte sich vor und warf ihm eine zusammengerollte Dek- ke hinüber, die neben seiner Matratze niederfiel und soviel Staub
aufwirbelte, daß er husten mußte.
»Danke«, sagte er, rollte das Bündel auseinander, warf es über sich und steckte die Decke rings um seine Matratze fest.
Das Licht oben in dem Dreieck zwischen den Läden wurde nun heller, die wirbelnden Staubteilchen wurden deutlicher und schienen mehr zu werden.
»Willst du eine Zigarette?« rief sie leise.
»Ja«, sagte er und wieder spürte er das Du wie einen Schlag. Sie griff unters Kopfkissen, nahm eine zerdrückte Packung Zi-
garetten heraus, steckte eine an und holte zum Schwung aus – aber dann stockte sie und sagte leise: »Ich kann nicht – – kann Jetzt nicht darüber werfen…« Er warf seine Decke beiseite, zog
die Hose hoch, die er nicht ausgezogen hatte, und ging barfuß zu
ihr hinüber; als er den Lichtstreifen durchquerte, spürte er eine
leichte angenehme Wärme, blieb stehen und sah in die leere
Wiege hinein: noch waren die Kissen zerdrückt, eine sanfte kleine Delle, in der das Kind gelegen haben mußte…
Plötzlich fiel Schatten über ihn, und er sah, daß die Frau aufge- standen war und am Kopfende der Wiege stand, sie hielt das
Licht ab, das aus der Öffnung der Läden fiel, es sammelte sich
auf ihrem schmalen Rücken und verteilte sich wie ein Strahlen- kranz. Ihr blasses Gesicht war voll Schatten. Sie reichte ihm die Zigarette hinüber, und er steckte sie in den Mund. Sie hielt den Blick auf die Wiege gesenkt, und er sah, daß ihre Lippen zitter- ten.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie, »ich kann nicht traurig sein. Ist es nicht komisch« – sie sah ihn an und es schien, als würde sie jetzt weinen – »es hört sich unnatürlich an, aber ich finde nichts
Unnatürliches dabei – verstehst du – ich beneide es fast – diese
Welt ist nichts für uns, verstehst du?«
Er nickte. Sie trat zurück und das Licht fiel ihm nun voll ins Gesicht und blendete ihn: es schien, als stiege die Sonne sehr schnell, der breite Lichtstrahl fiel nun schon so senkrecht, daß der untere Teil der Wiege im Schatten lag.
»Ich friere so«, sagte sie und er sah zu, wie sie die Decken bei- seite schlug und ins Bett zurückkroch.
»Soll ich das Fenster öffnen?« fragte er leise, »draußen ist es
schon ganz hell?«
»Nein nein«, sagte sie hastig, »laß es zu.«
Er ging zu seiner Lagerstatt, zog die Strümpfe über die Füße, nahm den Mantel, der immer noch auf dem Tisch lag, warf ihn über und setzte sich auf ihr Bett.
Er sog noch einmal heftig an der Zigarette, spürte, wie
Schwindel und Übelkeit in ihm hochstiegen, knipste dann die Glut ab und steckte den Rest in die Tasche. Er wollte sie eine Menge Dinge fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Er blickte an ihr vorbei in die Fensternische, sah den Tisch dort stehen mit Kleidern und Krempel vollgestapelt, links davon den Schrank, auf dem schmutziges Geschirr herumstand und ein paar ungeschälte Kartoffeln lagen, und er wußte plötzlich, daß er
Hunger hatte. Es überfiel ihn wie ein Krampf, schluckte in ihm
hoch wie ein unendliches Gähnen seines Magens…
»Haben Sie«, fragte er – »hast du etwas Brot für mich…?«
Sie sah ihn an, und dieser Blick traf ihn wieder wie ein Schlag. Es schien ihm, als taumele er nach hinten und würde zugleich nach vorne gezogen…
»Nein«, sagte sie und ihr Mund bewegte sich kaum. »Ich habe kein Brot. Wenn es Brot gibt, bekomme ich etwas gebracht nachher…«
Er setzte sich etwas weiter zurück, so daß er sich an das Fu- ßende des Bettes lehnen konnte, und er hörte sich plötzlich selbst sagen: »Kann ich bei dir bleiben – ich meine vorläufig – länger – immer?«
»Ja«, sagte sie sofort.
Sie hatten ihre Blicke wieder getrennt, und sie nahm jetzt ihren Arm unter dem Kopf weg, zog die Decke über die Schultern und drehte sich zur Wand…
»Du kannst bei mir bleiben«, sagte sie noch einmal, »ich habe
keinen Mann, auch keinen zu erwarten – – Ich habe – – ich bin erst einmal mit einem Mann zusammen gewesen – – vor einem Jahr – – . Das Kind es war von ihm. Ich kenne ihn nicht, weiß nicht einmal seinen Vornamen, er sagte nur du zu mir und ich, ich sagte du zu ihm, das war alles.
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