Der Engel Schwieg.
hefti-
gen Grün und so dicht belaubt gewesen, der Himmel war klar und die Vögel zwitscherten in den Gebüschen; heftig und stark war dieses Geräusch der durcheinander pfeifenden Vögel…
Fern, hinter den Schrebergärten, über den Bahndamm hinaus- ragend, sah er die verkohlten Ruinen der Stadt, eine zerrissene finstere Silhouette – er spürte einen tiefen, bohrenden Schmerz und schloß das Fenster wieder. Drinnen war es nun wieder dämmerig und ruhig, das Vogelgezwitscher war ausgesperrt, und er begriff jetzt, daß sie das Fenster nicht hatte öffnen wollen.
VI
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Er lag immer auf dem Bett und wußte nicht, woran er dachte. Meistens war er müde, aber er konnte manchmal nicht schlafen, und es regnete auch oft durch, aber er stand nicht auf, zog nur die Decke über den Kopf und ließ es regnen – irgendwie trock- nete dann alles wieder. Manchmal rauchte er auch, wenn sie ihm Tabak oder Zigaretten brachte, und er aß Brot, trank Kaffee und Suppe: meistens gab es Suppe, und oft war auf dem Brot Mar- melade. Er sah sie nicht oft, es gab Tage, an denen er sie gar nicht sah, dann hörte er nur, wie sie in die Küche ging, und mor- gens, wenn er wach wurde, stand er auf und fand in der Küche etwas zu essen: Margarine und Brot, und auf dem Kocher stand in einer Blechkanne Kaffee: er brauchte nur den Stecker einzu- stöpseln…
Aber meistens kam sie einmal am Tage in sein Zimmer: er wohnte jetzt in dem großen Zimmer, und sie schlief in der Kü- che auf der Couch. Sie steckte den Kopf ins Zimmer: er sah ihr blasses, schönes Gesicht und sie fragte: »Willst du etwas zu essen oder willst du eine Zigarette?« Wenn er ja sagte – und er sagte immer ja –, kam sie herein, legte alles auf den Tisch und ging wieder. Manchmal rief er auch: »Warte einen Augenblick«, und sie blieb mitten in ihrer heftigen Bewegung stehen, drehte sich herum, die Klinke in der Hand, und fragte: »Ja, was denn…?« Er schwieg dann erst und brachte mühsam heraus:
»Ich stehe bald auf, nur ein paar Tage noch, ich werde dir hel- fen…«
»Laß doch«, sagte sie dann wütend und ging hinaus. Und sie kam einen ganzen Tag nicht zu ihm, und er mußte morgens
aufstehen, in die Küche gehen und sehen, ob sie ihm etwas hin- gelegt hatte. Es lag immer ein Zettel dabei: Du kannst die Hälfte
vom Brot nehmen und die Hälfte der Margarine. Oder sie
schrieb: es ist nur Suppe da, eine Zigarette liegt im Schrank – Meistens hatte er Hunger, aber der Hunger war nicht stark ge-
nug, ihn aus dem Bett zu treiben. Er ging nur zum Klo: es war
lästig, er mußte sich ganz anziehen, die Treppe hinuntergehen, und oft begegneten ihm Leute, die offenbar unten wohnten: eine große dicke Blondine, die ihn mißtrauisch ansah, bis er »Guten Tag« sagte, dann sagte sie auch »Guten Tag«, oder eine ältere Frau, die im Zimmer unter ihm zu wohnen schien: ein müdes Gesicht unter strähnigem Haar, die nichts sagte, auch wenn er
»Guten Tag« sagte. Auch Männer schienen unten zu wohnen: er hörte sie oft singen oder schimpfen, und einmal begegnete ihm einer, der ihm gespenstisch elegant erschien: er trug einen blau- en, gutsitzenden Anzug, weißes Hemd, grüne Krawatte und sogar einen Hut, und er sagte auch »Guten Tag«. Manchmal horte er auch Autos vorfahren, aber das war abends, und abends stand er nie mehr auf.
Die Zeit verging. Er spürte es, es schien ihm wie ein flüchtiger Traum und zugleich unendlich lange: ein seltsam grauer ge- schmackloser Trank, den er jede Sekunde in sich hineinschlürfte:
die Zeit…
Eines Abends fragte er Regina: »Den wievielten haben wir?«, und sie sagte ruhig, in der Tür, ohne sich herumzudrehen: »Den 25.«
Er erschrak: er lag schon fast drei Wochen im Bett: diese drei Wochen schienen unendlich, er dachte er läge schon sein ganzes Leben im Bett, in diesem kaum erleuchteten Zimmer, die Läden immer noch verschlossen, ließ sich Brot bringen, Zigaretten, Suppe…
Drei Wochen! Es hätten genauso gut drei Jahre sein können: er hatte kein Gefühl für Zeit mehr – er schien hinzusinken in diese graue unwirkliche Wirklichkeit.
Dann kam Regina zwei Tage hintereinander nicht zu ihm, und er hörte sie nur in ihr Zimmer gehen, und als er morgens auf- stand, um in der Küche etwas zu essen zu suchen, fand er nichts und auch keinen Zettel: er suchte die Schubladen durch, alle Schränke, aber es war nichts da: irgendwo in einem alten Mar- meladenglas fand er etwas, was sie vielleicht vergessen
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