Der Engelmörder - Spindler, E: Engelmörder
neues Leben beginnst“, warf sie ihm verbittert vor. „Mit einer neuen Familie.“
Er bekam ihren anderen Arm zu fassen. „Nur weil ich wieder leben möchte, ist unsere Tochter nicht vergessen. Nur weil ich wiederhaben will, was ich hatte und dann verloren habe, vergesse ich Sadie nicht.“
„Lass mich los“, fauchte sie ihn an. „Ich will mir nicht deine selbstsüchtigen Rechtfertigungen anhören.“
„Sadie würde das hassen, was aus uns geworden ist … was aus dir geworden ist. Denk mal darüber nach.“
Sie riss sich von ihm los, während sie vor Wut über diesen Verrat am ganzen Leib zitterte. „Das werde ich dir niemals verzeihen, Joe. Niemals!“
Sekundenlang standen sie sich gegenüber und sahen sich an. Kitt schaffte es einfach nicht, sich von Joe abzuwenden und fortzugehen, weil sie sich viel lieber in seine Arme hätte sinken lassen. Sie wollte um alles weinen, was sie verloren hatte, und sie wollte ihn anbetteln, er solle Valerie bitte nicht heiraten.
Schließlich tat er einen Schritt zurück. „Es tut mir leid, Kitt. Aber ich … ich kann so nicht weitermachen.“
Er ging davon, und sie konnte ihm nur am Boden zerstört nachschauen. Ihre Ehe war vorüber, und bald würde Joe mit einer anderen Frau verheiratet und Teil einer anderen Familie sein.
Ein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen. Bis zu dieser Sekunde hatte sie immer noch geglaubt, Joe gehöre zu ihr.
„Der ist für Sie, schöne Lady.“
Ihr Blick richtete sich auf den Clown, der sich ihr genähert hatte. Sein geschminktes Gesicht war ernst, und er hielt ihr einen der dicken Ballons hin, die er verkaufte. Es war ein rosafarbener.
Tränen stiegen ihr abermals in die Augen, während sie den Kopf schüttelte. Sie brachte keinen Ton heraus.
Hartnäckig hielt er ihr den Ballon hin. „Damit Sie wieder lächeln.“
Der Clown musste den Streit mitbekommen haben, und jetzt bedauerte er sie deswegen – doch sie bedauerte sich selbst noch viel mehr.
Hilflos nahm sie den Luftballon an, dann verbeugte sich der Clown so, dass seine orangefarbene Perücke bei der Bewegung hin und her wippte, und schlurfte davon.
Mit dem rosa Ballon in der Hand machte sich Kitt auf den Weg zu ihrem verlassenen Haus.
30. KAPITEL
Dienstag, 14. März 2006
22:20 Uhr
Das Schrillen des Telefons riss sie aus dem Schlaf. Kitt öffnete die Augen einen Spaltbreit, und einen Moment lang drehte sich alles um sie. Langsam und desorientiert ließ sie den Blick durch das dunkle Zimmer wandern.
Wieder klingelte das Telefon. Sie griff nach dem Hörer und warf etwas um, was im Weg stand. Ein Glas.
Ein leeres Glas.
Ein Glas, das mit Wodka gefüllt gewesen war.
Sie nahm den Hörer und drückte ihn ans Ohr. „Ja?“, murmelte sie. „Lun’gren.“
„Kitt? Bist du das? Ich bin’s, Danny.“
„Danny?“, wiederholte sie und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, der vom Alkohol benebelt war.
Sie hatte einen Rückfall erlitten. Der Grund dafür waren das Gefühl, verraten worden zu sein, und ihre Verzweiflung. Wie konnte sie bloß so dumm und so schwach sein?
„Geht es dir gut?“, fragte er.
„Ja, ich habe allerdings schon geschlafen.“ Sie räusperte sich und setzte sich auf, weil sie nach der Uhr sehen wollte. „Wie spät ist es? Mir kommt es vor, als hätten wir mitten in der Nacht.“
„Kurz nach zehn.“
Sie nahm seinen enttäuschten Tonfall wahr. Das Misstrauen. Ein Säufer durchschaute einen anderen Säufer.
„Was ist los?“ Sie versuchte, ganz normal zu klingen. Normal und nüchtern.
Einen Moment lang schwieg er. „Nichts. Ich musste nur an dich denken. Wir haben uns seit letzter Woche nicht mehr gesprochen, und ich … na ja, ich wollte mich davon überzeugen, dass es dir gut geht.“
„Mir geht’s bestens.“ Sie zuckte innerlich zusammen, als sie hörte, wie fröhlich ihr diese Lüge über die Lippen kam. „Das heißt, so gut, wie es mir unter diesen Umständen eben gehen kann.“
„Unter den Umständen, dass dein Exmann verlobt ist und du es mit einem Nachahmungstäter zu tun hast, der genauso mordet wie damals, als du die Kontrolle über dich verloren hast.“
„Ja, genau.“ Sie schloss die Augen und betete, dass er sie nicht fragte, ob sie getrunken hatte. Sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Du hättest mich anrufen können, Kitt. Oder einen anderen aus der Gruppe.“
„Was redest du da?“
„Verstehe.“ Er hielt inne, als ordne er seine Gedanken oder als gebe er ihr noch
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