Der Engelspapst
fertig, drehte sich auf dem Absatz um und deutete auf Utz Rasser: «Warum beschützen Sie einen Tyrannen?»
«Wie?», stammelte Utz.
«Ich möchte von Ihnen wissen, weshalb es Ihr Beruf ist, einen Tyrannen zu beschützen.»
Utz grinste Donati an. «Sie müssen mich verwechseln, Commissario. Ich diene in der Schweizergarde, nicht in der Waffen-SS.»
«Ich weiß, dass Sie ein Schweizergardist sind», erwiderte Donati. «Beantworten Sie bitte meine Frage. Warum setzen Sie und Ihre Kameraden Ihr Leben aufs Spiel, um einen Tyrannen zu beschützen?»
«Aber … der Papst ist kein Tyrann!»
Donatis schmale Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. «Ein potenzieller Attentäter wird das Gegenteil behaupten. Und gerade das macht ihn gefährlich. Wer aus tiefster Überzeugung einem Menschen nach dem Leben trachtet, bewegt sich jenseits von Logik und Menschlichkeit. Damit müssen Sie immer rechnen, meine Herren!»
Der Polizist nahm einen Zettel von seinem Tisch auf und las vor: « Ich bin verzweifelt. Und warum? Weil ich das getan habe, wofür Brutus geehrt worden ist und was Teil zu einem Helden gemacht hat. Aber ich, der ich einen größeren Tyrannen getötet habe, als sie ihn jemals kennen gelernt haben, werde als gemeiner Mörder angesehen. » Donati legte den Zettel weg und blickte in die Runde: «Nun, was meinen Sie, wer hat das geschrieben?»
Die Gardisten schwiegen ratlos, einige rätselten laut:
«François Ravaillac, der Mörder Heinrichs VI.?» – «Oder der Mörder Heinrichs III., dieser Dominikanermönch.» – «Ja, Jacques Clement hieß er doch.» – «Nein, den hat Heinrichs Garde nach dem Attentat aufgespießt. Der hatte gar keine Zeit mehr zum Schreiben.» – «Vielleicht war es dieser Gerard, der Wilhelm den Schweiger erschossen hat? Der wurde erst später hingerichtet.»
Als die Antworten verebbten, schaltete Donati den Diaprojektor ein. Die Leinwand zeigte das Abbild einer alten Schwarzweißzeichnung: fünf Personen in der Theaterloge. Im Vordergrund saßen eine Frau und ein Mann. Die Frau rang ergriffen die Hände, während der kinnbärtige Mann mit seinem Stuhl zur Seite kippte. Schräg hinter ihm stand ein Mann mit Schnurrbart und feuerte aus einem altertümlichen Derringer auf seinen Kopf. In der linken Hand hielt der Attentäter ein großes Messer. Hinter der verzweifelten Frau standen eine zweite, jüngere Frau und ein Offizier; beide wirkten höchst erschrocken.
«Ist die Situation bekannt?», fragte Donati.
Der Feldweibel Kurt Mäder meldete sich: «Der Mord an Abraham Lincoln, vierzehnter April 1865, Ford-Theater in Washington.»
Donati nickte und zog einen Laserpointer aus der Jackentasche. Der rote Laserpunkt heftete sich an die Brust des Attentäters. «John Wilkes Booth hatte leichtes Spiel. Vor der Präsidentenloge stand keine Wache. Nach der Tat sprang er von der Loge auf die Bühne und schrie: Sic semper tyrannis! – So geschehe es allen Tyrannen!»
Der rote Punkt erlosch, und es herrschte Schweigen, bis Alexander sagte: «Dann ist die Sache klar. Booth ist derjenige, der sich für einen neuen Brutus oder Wilhelm Teil gehalten hat.»
«Aber Lincoln war doch kein Tyrann!», entgegnete jemand im Halbdunkel hinter Alexander.
«Für die heutige Geschichtsschreibung nicht und auch nicht für die Mehrheit der öffentlichen Meinung damals, aber für Booth und seine Kumpane war er es», erklärte Donati. «Sie waren glühende Anhänger der konföderierten Sache und bereit, alles zu tun, um den Siegeszug der Union ins Gegenteil zu verkehren. Was ich eingangs vorgelesen habe, schrieb Booth in sein Tagebuch, als er sich nach dem Mord an Lincoln vor seinen Häschern versteckte.»
Donati schob das nächste Dia zwischen Objektiv und Sammellinsen. Es war ein Foto des toten Mahatma Gandhi, der von Trauernden mit Blütenblättern geschmückt wurde.
«Gandhi war also auch ein Tyrann?», fragte Utz und lachte trocken.
«In den Augen seines Mörders mit Sicherheit», erwiderte Donati ohne jede Spur von Heiterkeit. «Der Hindu Nathuram V.
Godse, der Gandhi erschossen hat, hat in seinem Prozess erklärt, er und seine beiden Komplizen hätten in der Überzeugung gehandelt, dass Gandhi den Tod verdient habe, weil er das gewaltsame Vorgehen von Hindus gegen moslemische Mitbürger kritisiert habe. Selbstverständlich hielten die radikalen Hindus ihre Gewaltanwendung für legitim – und Gandhi für einen Tyrannen, weil er ihnen ihr vermeintliches Recht streitig machte. Diese Ansicht
Weitere Kostenlose Bücher