Der Engelsturm
Schmerz auf dem Amboss der Pflicht zurechtschmiedet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir aussehen werden, wenn er sein Werk vollendet hat.« Er lehnte sich zurück und winkte den anderen fortzufahren. »Nur bitte sorgt dafür, dass Camaris nichts geschieht. Er ist der Träger des einzigen Gegenstandes, den wir dem Schicksal abgetrotzt haben, nachdem mein Bruder und der Sturmkönig Naglimund zerstörten – und wir haben seitdem sehr viel verloren.«
Isgrimnur betrachtete den alten Ritter. Camaris saß gedankenversunken da, den Blick ins Leere gerichtet. Seine Lippen bewegten sich.
Der König lauerte im Gang über dem Eingang zur Schmiede. Die vorher schon unruhigen Soldaten fuhren erschrocken zusammen, als die verhüllte Gestalt aus den Schatten auf sie zuwankte. Einer von ihnen ging sogar so weit, sein Schwert zu ziehen, bevor er es auf Pryrates’ scharfen Zuruf wieder einsteckte. Elias schien den beinahe tödlichen Irrtum des jungen Wachsoldaten jedoch gar nicht zu bemerken.
»Pryrates«, krächzte der König, »ich suche und suche. Wo ist mein Mundschenk? Mein Hals ist so trocken …«
»Ich werde Euch helfen, Majestät.« Der Priester richtete die Kohlenaugenauf die glotzenden Soldaten, die eilig den Blick abwendeten oder auf die eigene Brust hefteten. »Der Hauptmann wird diese Männer zurück auf die Mauern führen. Unsere Arbeit hier ist beendet.« Er verscheuchte sie mit flatterndem rotem Ärmel.
Als das Geräusch ihrer Schritte im Gang verhallt war, ergriff Pryrates sanft den Arm des Königs, sodass Elias sich auf ihn stützen konnte. Das starre Gesicht des Herrschers war fahl wie Pergament, und er leckte sich ständig die Lippen.
»Sagtet Ihr, Ihr hättet meinen Mundschenk gefunden?«
»Ich werde mich selbst um Euch kümmern, Majestät. Ich fürchte, wir werden Hengfisk nicht wiedersehen.«
»Ist er … ist er fortgelaufen … zu ihnen?« Elias hielt den Kopf schräg, als könnte er das Geräusch von Verrat hören. »Sie stehen überall vor den Mauern. Ihr müsst es bemerkt haben. Ich kann sie fühlen. Meinen Bruder und diese helläugigen Geschöpfe …« Er fuhr sich mit den Händen an den Mund. »Ihr habt mir erzählt, sie würden vernichtet werden, Pryrates. Ihr habt gesagt, jeder, der mir Widerstand leistet, würde vernichtet.«
»Und so wird es auch geschehen, mein König.« Der Priester schob Elias den Gang hinunter und steuerte ihn durch den Irrgarten der Korridore zu den Wohngebäuden hin. Sie kamen an einem offenen Fenster vorbei, durch das Schnee hereinwehte, der auf dem Boden zu Pfützen schmolz. Draußen vor den brodelnden Sturmwolken ragte der Engelsturm auf. »Ihr selbst werdet sie ausrotten und das Goldene Zeitalter einläuten.«
»Und dann wird auch der Schmerz mich verlassen«, schnaufte Elias. »Ich würde Josua nicht so hassen, wenn er mir nicht so viel Schmerz gebracht hätte. Außerdem hat er meine Tochter gestohlen. Aber er ist immer noch mein Bruder …«, der König biss jäh die Zähne zusammen, als hätte man ihm einen Dolchstoß versetzt, »… denn Familie ist Blut …«
»Und Blut ist mächtiger Zauber«, sagte Pryrates halb zu sich selbst. »Ich weiß, mein König. Aber sie haben sich gegen Euch gestellt, Euer Bruder und Eure Tochter. Darum habe ich neue Freunde für Euch gefunden – mächtige Freunde.«
»Aber eine Familie könnt Ihr nicht ersetzen«, versetzte Elias einwenig traurig. Er verzog schmerzlich das Gesicht. »O Gott, Pryrates, ich verbrenne. Wo steckt dieser Mundschenk?«
»Nur noch ein paar Schritte, Majestät. Wir sind gleich da.«
»Ich kann ihn fühlen, wisst Ihr«, keuchte Elias. Er lag flach auf seiner Matratze, die an so vielen Stellen durchgefault war, dass überall das Rosshaar herausstach. Seine Hand umklammerte einen schmutzigen, jetzt leeren Pokal.
Pryrates blieb in der Tür stehen. »Wen, Majestät?«
»Den Stern, den roten Stern.« Elias deutete an die von Spinnweben überwucherte Decke. »Er hängt über mir und starrt mich an wie ein Auge. Die ganze Zeit höre ich sein Singen.«
»Singen?«
»Das Lied, das er singt – oder das Lied, das ihm das Schwert singt; ich kann es nicht unterscheiden.« Seine Hand fiel herunter und kroch wie eine Spinne auf die lange Schwertscheide zu. »Sie singen in meinem Kopf. ›Es ist Zeit, es ist Zeit‹, sagen die Stimmen immer und immer wieder.« Er lachte, die Stimme heiser und brüchig. »Manchmal wache ich irgendwo in der Burg auf, ich laufe herum und weiß nicht, wie ich dorthin
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