Der Engländer
auch Anna Rolfe angenähert. Sie hatte schon als Vierjährige angefangen, Geige zu spielen, und sofort außergewöhnliche Begabung erkennen lassen. Der große Schweizer Musikpädagoge Karl Wehrli erklärte sich bereit, sie als Schülerin anzunehmen, und damit begann für die beiden eine harmonische Beziehung, die bis zu seinem Tod andauerte. Als Anna zehn war, plädierte Wehrli dafür, sie von der Schule zu nehmen, damit sie mehr Zeit für ihre Musik habe. Ihr Vater stimmte widerstrebend zu. Ein Privatlehrer kam jeden Tag drei Stunden in die Züricher Villa, und für den Rest des Tages spielte Anna Violine.
Mit fünfzehn debütierte sie beim Internationalen Musikfestival in Luzern, begeisterte die europäische Musikszene und wurde danach zu einer Reihe von Konzerten nach Deutschland und in die Niederlande eingeladen. Im Jahr darauf gewann sie den renommierten Jean-Sibelius-Wettbewerb in Helsinki. Außer einem hohen Geldpreis erhielt sie eine Meistergeige, eine kostbare Guarneri, ein Engagement für eine Konzerttournee und einen Schallplattenvertrag.
Bald nach dem Sibelius-Wettbewerb begann Anna Rolfes kometenhafter Aufstieg. Sie stürzte sich in ein anstrengendes Arbeitspensum aus Konzerten und CD-Aufnahmen. Ihre Schönheit machte sie zu einem interkulturellen Phänomen. Ihr Photo erschien auf den Titelseiten europäischer Modemagazine.
Im US-Fernsehen trat die junge Violinistin regelmäßig in Sondersendungen auf.
Dann, nach fast zwei Jahrzehnten rastloser Konzert-und Aufnahmetätigkeit, hatte Anna Rolfe den Unfall erlitten, bei dem sie beinahe den Gebrauch ihrer Hand eingebüßt hätte.
Gabriel versuchte sich vorzustellen, wie ihm zumute wäre, wenn er plötzlich die Fähigkeit verlöre, Gemälde zu restaurieren. Er erwartete nicht, sie gut gelaunt anzutreffen.
Eine Stunde nach Gabriels Ankunft hörte Anna zu spielen auf.
Jetzt war nur noch der gleichmäßige Takt eines Metronoms zu hören. Dann verstummte auch der Taktmesser. Fünf Minuten später erschien sie in ausgebleichten Jeans und einem perlgrauen Baumwollpullover auf der Terrasse. Ihr Haar war feucht.
Sie streckte ihm ihre Rechte hin. »Ich bin Anna Rolfe«, sagte sie auf englisch.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Miss Rolfe.«
»Bitte nehmen Sie Platz.«
Wäre Gabriel ein Porträtmaler gewesen, hätte er Anna Rolfe bestimmt gern gemalt. Ihr Gesicht hatte alles, was dem herkömmlichen Schönheitsideal entsprach: ausgeprägte hohe Wangenknochen, grüne Katzenaugen, volle Lippen, wohlgeformtes Kinn. Aber es war auc h ein Gesicht aus vielen Schichten. Sinnlich und verwundbar, selbstbewußt und willensstark. Alles mit einer Spur von melancholischer Traurigkeit unterlegt. Aber es war ihre Energie - ihre ruhelose, rücksichtslose Energie -, die am schwierigsten auf die Leinwand zu bannen gewesen wäre. Ihr lebhafter Blick war in ständiger Bewegung. Selbst nach stundenlangem Üben konnte sie ihre Hände nicht stillhalten. Sie schienen ein Eigenleben zu führen: spielten mit einem Feuerzeug, trommelten auf dem Tisch, griffen immer wieder nach oben, um eine Haarsträhne wegzuschieben, die ihr ins Gesicht fiel. Sie trug keinen Schmuck; keine Armreifen an den Handgelenken, keine Ringe an den Fingen, keine Halskette.
»Hoffentlich mußten Sie nicht zu lange warten. Aber Carlos und Maria haben strikte Anweisung, mich auf keinen Fall zu stören, während ich übe.«
»Es war mir ein Vergnügen, Ihnen zuzuhören. Ihr Spiel war ein Genuß.«
»Das war es heute sicher nicht, aber es ist sehr nett von Ihnen, das zu sagen.«
»Ich habe Sie leider nur einmal im Konzertsaal gehört. Vor ein paar Jahren in Brüssel. Ein Tschaikowski-Abend, wenn ich mich nicht irre. Ein triumphaler Erfolg.«
»Soweit bin ich noch längst nicht wieder.« Sie rieb die Narben auf ihrer linken Hand, was eine unbewußte Bewegung zu sein schien. Dann legte sie ihre Hand in den Schoß und tippte mit der anderen auf den Zeitungsstapel. »Wie ich sehe, haben Sie die Artikel über meinen Vater gelesen. Die Züricher Polizei scheint nicht gerade viel über seine Ermordung zu wissen, nicht wahr?«
»Schwer zu sagen.«
»Wissen Sie etwas, das die Züricher Polizei nicht weiß?«
»Auch das ist schwer zu sagen.«
»Bevor Sie mir erzählen, was Sie wissen, nehmen Sie es mir hoffentlich nicht übel, wenn ich Ihnen erst eine Frage stellen möchte.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wer sind Sie eigentlich?«
»In dieser Sache bin ich ein Vertreter der israelischen
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