Der Engländer
befeuchtete den Zeigefinger, blätterte die nächste Seite ihres Romans um und beendete damit die Diskussion. Im Fernsehen brachen die amerikanischen Kriminalbeamten in einem Block mit Sozialwohnungen eine Wohnungstür auf. Als sie hineinstürmten, eröffneten zwei Verbrecher das Feuer mit automatischen Waffen. Die Polizeibeamten erwiderten das Feuer und erschossen die beiden. Solche Brutalität! dachte Peterson. Er trug selten eine Waffe und hatte im Dienst außer auf dem Schießstand noch nie einen Schuß abgegeben.
»Wie war's in Bern?«
Um seinen kurzen Besuch bei Otto Gessler zu tarnen, hatte Peterson ihr erzählt, er müsse dienstlich nach Bern. Er ließ sich aufs Bett sinken und streifte seine Slipper ab.
»Wie's in Bern immer ist.«
»Das freut mich.«
»Was liest du da?«
»Keine Ahnung. Die Geschichte handelt von einem Mann und einer Frau.«
Warum hatte er sich bloß die Mühe gemacht, sich danach zu erkundigen? »Wie geht's den Mädchen?«
»Denen geht's gut.«
»Und Stefan?«
»Dem habe ich versprechen müssen, daß du zu ihm reingehst und ihm seinen Gutenachtkuß gibst.«
»Ich will ihn aber nicht aufwecken.«
»Du weckst ihn nicht. Du gehst einfach rein und gibst ihm einen Kuß auf die Stirn.«
»Was hat er davon, wenn ich ihn dabei nicht aufwecke? Ich sage morgen früh einfach, daß ich ihn im Schlaf geküßt habe, und er muß damit zufrieden sein.«
Eva klappte ihr Buch zu und sah ihn erstmals richtig an, seit er hereingekommen war. »Du siehst schrecklich aus, Gerhardt.
Du bist bestimmt fast verhungert. Geh und mach dir was zu essen.«
Er ging auf Strumpfsocken in die Küche. Geh und mach dir was zu essen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann Eva ihm zum letztenmal angeboten hatte, ihm eine Mahlzeit zuzubereiten. Nachdem die sexuellen Intimitäten zwischen ihnen zum Erliegen gekommen waren, hatte er erwartet, daß andere Dinge wie das Vergnügen, sich ein am eigenen Herd zubereitetes Mahl zu teilen, an ihre Stelle treten würden. Aber nicht mit Eva. Erst hatte sie ihm den Zugang zu ihrem Körper verwehrt, dann zu ihren Gefühlen. Peterson lebte in seinem eigenen Heim wie auf einer Insel.
Er öffnete den Kühlschrank und suchte in dem Durcheinander aus halbleeren Packungen von Fertiggerichten nach etwas Eßbarem, das nicht schon verdorben oder angeschimmelt war.
In einer fettfleckigen Pappschachtel wurde er fündig: Er entdeckte ein Häufchen Nudeln mit Schinkenraclette. Im untersten Fach lagen hinter einer Plastikdose mit grünem Ricottakäse zwei Eier. Er machte sich Rühreier und erhitzte die Nudeln mit Schinkenraclette in der Mikrowelle. Dann goß er sich ein sehr großes Glas Rotwein ein und nahm alles ins Schlafzimmer mit. Eva war damit beschäftigt, ihre Zehennägel zu lackieren.
Er teilte sich die Mahlzeit sorgfältig so ein, daß er zu jedem Bissen Rührei eine Gabel Nudeln mit Schinkenraclette essen konnte. Eva fand diese Angewohnheit ärgerlich, was mit der Grund dafür war, weshalb er sie demonstrativ beibehielt. Im Fernsehen floß wieder Blut. Freunde der erschossenen Verbrecher waren dabei, den Tod ihrer Kameraden zu rächen, indem sie ihrerseits die Kriminalbeamten umlegten. Ein weiterer Beweis für Herrn Gesslers Theorie vom zyklischen Verlauf des Lebens.
»Stefan hat morgen ein Fußballspiel.« Sie blies auf ihre Zehennägel. »Er möchte, daß du kommst.«
»Ich kann nicht. Ich habe im Büro zu tun.«
»Er wird enttäuscht sein.«
»Das läßt sich leider nicht ändern.«
»Was ist im Büro so wichtig, daß du nicht wegkannst, um deinen Sohn Fußball spielen zu sehen? Außerdem passiert in diesem Land ohnehin nie etwas Wichtiges.«
Ich muß die Ermordung Anna Rolfes organisieren, dachte Peterson. Er fragte sich, wie Eva reagiert hätte, wenn er das laut ausgesprochen hätte. Er spielte mit dem Gedanken, es tatsächlich zu tun, um sie auf die Probe zu stellen nur um zu sehen, ob sie ihm jemals richtig zuhörte.
Eva war mit den Nägeln fertig und kehrte zu ihrem Roman zurück. Peterson stellte den leeren Teller mitsamt dem Besteck auf den Nachttisch, streckte sich auf dem Bett aus und knipste seine Nachttischlampe aus. Im nächsten Augenblick flog die Schlafzimmertür auf; Ajax stürmte herein und machte sich daran, die Ei-und Fettreste von Evas kostbarem handbemalten Porzellan zu lecken. Eva befeuchtete ihren Zeigefinger und blätterte eine weitere Seite um.
»Wie war's in Bern?« fragte sie.
35 - KORSIKA
In dem kleinen Tal machte die Nachricht von
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