Der entzauberte Regenbogen
sowie in Populationen und Lebensgemeinschaften wie dem tropischen Regenwald oder einem Korallenriff in ein kompliziertes Geflecht von Wechselwirkungen, sondern auch jedes Individuum – Tier oder Pflanze – ist selbst eine Lebensgemeinschaft. Es besteht aus Milliarden Zellen, und jede dieser Milliarden Zellen ist ein Konsortium aus Tausenden von Bakterien. Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Auch die «artspezifischen» Gene einer Art sind eine Lebensgemeinschaft egoistischer Kooperatoren. Auch hier führt uns ein Aspekt poetischer Wissenschaft in Versuchung: die Poesie der Hierarchie. Einheiten gehören zu größeren Einheiten, und das nicht nur auf der Ebene des einzelnen Lebewesens, sondern auch auf höheren Stufen, denn die Individuen leben in Gemeinschaften. Besteht nicht auf allen Ebenen der Hierarchie eine symbiontische Kooperation zwischen zuvor unabhängigen Einheiten der nächsttieferen Ebene?
Darin steckt vielleicht ein Körnchen Wahrheit. Termiten leben ausgezeichnet davon, dass sie Holz und Holzprodukte wie beispielsweise Bücher fressen. Aber auch hier gilt: Die dazu notwendigen chemischen Kunstgriffe sind keine natürliche Fähigkeit der eigenen Zellen der Termiten. Genau wie die unbedarfte Eukaryontenzelle, die sich der biochemischen Fähigkeiten ihrer Mitochondrien bedienen muss, so kann auch der Darm der Termiten allein kein Holz verdauen. Er ist zu diesem Zweck auf symbiontische Mikroorganismen angewiesen, die diese Aufgabe für ihn übernehmen. Die Termiten leben von den mikroskopisch kleinen Darmbewohnern und ihren Ausscheidungen. Diese Mikroorganismen sind seltsame, stark spezialisierte Lebewesen, und die meisten ihrer Arten kommen auf der ganzen Welt ausschließlich im Darm ihrer eigenen Termitenspezies vor. Sie sind auf die Termiten (die das Holz finden und mechanisch zerkleinern) ebenso angewiesen wie die Termiten auf sie (weil sie das Holz mit Enzymen, welche die Termiten selbst nicht produzieren können, in noch kleinere Moleküle zerlegen). Bei manchen der Mikroorganismen handelt es sich um Bakterien, andere sind Protozoen (einzellige Eukaryonten) und wieder andere sind eine faszinierende Mischung aus beiden. Faszinierend sind sie, weil sie uns ein entwicklungsgeschichtliches Déjà-vu-Erlebnis verschaffen, das ebenfalls sehr nachdrücklich für Margulis’ Spekulationen spricht.
Mixotricha paradoxa ist eine Spezies flagellenbesetzter Protozoen, die im Darm der australischen Termite Mastotermes darwiniensis leben. Am Vorderende tragen sie vier lange Cilien. Margulis glaubt natürlich, diese stammten ursprünglich von symbiontisch lebenden Spirochäten ab. Aber auch wenn das umstritten sein mag: Mixotricha besitzt außerdem kleine, wellenförmig bewegliche, haarähnliche Ausstülpungen eines zweiten Typs, und bei ihnen ist kein Zweifel möglich. Sie bedecken die übrige Oberfläche des Einzellers und sehen wie Cilien aus, ganz ähnlich jenen, die menschliche Eizellen mit rhythmischem Schlag durch die Eileiter treiben. Aber es sind keine Cilien. Jede einzelne – und es sind insgesamt etwa eine halbe Million – ist ein winziger Spirochät. Diese rudernden Bakterien treiben Mixotricha im Darm der Termite vorwärts, und es gibt Befunde, wonach sie ihre Bewegungen koordinieren. Das erscheint kaum glaublich, solange man sich nicht klarmacht, dass jedes Bakterium einfach von seinen unmittelbaren Nachbarn angestoßen werden könnte.
Die vier langen Cilien am Vorderende dienen offenbar nur als Steuerruder. Man könnte sie als «eigene» Strukturen von Mixotricha bezeichnen, im Unterschied zu den Spirochäten, mit denen seine übrige Oberfläche besetzt ist. Aber wenn Margulis Recht hat, gehören sie nicht stärker zu Mixotricha als die Spirochäten: In ihnen spiegelt sich nur eine frühere Besiedelung wider. Das Déjà-vu-Erlebnis ist die Aufnahme neuer Spirochäten, die Wiederholung eines Dramas, das zum ersten Mal vor einer Milliarde Jahren in Szene gesetzt wurde. Nebenbei bemerkt: Mixotricha kann keinen Sauerstoff verwerten, denn davon gibt es im Termitendarm nicht genug. Ansonsten könnten wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Einzeller auch Mitochondrien enthalten würden, Überbleibsel einer dritten Besiedelungswelle durch Bakterien. Aber sie tragen in ihrem Inneren ohnehin symbiontische Bakterien, die möglicherweise eine ähnliche biochemische Funktion erfüllen wie die Mitochondrien und vielleicht bei der schwierigen Aufgabe des Holzabbaus mitwirken.
Jedes Individuum
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