Der entzauberte Regenbogen
ihre Auswirkungen in der Außenwelt den Auswirkungen anderer Gene in der Außenwelt. Fälle, die wie enge Parasiten oder Mitochondrien eine Zwischenstellung einnehmen, sind besonders aufschlussreich, weil sie die Grenze verwischen.
Eine skeptische Haltung gegenüber der natürlichen Selektion wird häufig mit folgenden Überlegungen begründet: Die natürliche Selektion, so heißt es, sei ein ausschließlich negativer Vorgang, der Ungeeignetes ausmerzt. Wie kann dieses negative Beseitigen der Ungeeigneten die positive Aufgabe übernehmen, eine komplexe Anpassung hervorzubringen? Die Antwort liegt zu einem großen Teil in der gemeinsamen Wirkung von Koevolution und Koadaptation, zwei Vorgängen, die, wie wir gesehen haben, gar nicht weit auseinander liegen.
Koevolution ist wie der Rüstungswettlauf bei den Menschen ein Rezept für die allmähliche Anhäufung von Verbesserungen (damit meine ich natürlich Verbesserungen der Effizienz, mit der sie ihre Aufgabe erfüllen; aus der Sicht der Menschen ist eine «Verbesserung» bei der Bewaffnung natürlich genau das Gegenteil). Wenn Raubtiere ihrer Aufgabe besser gerecht werden, muss die Beute mitziehen, um die gleiche Stellung beizubehalten, und umgekehrt. Das Gleiche gilt für Parasiten und ihre Wirte. Jede Eskalation ruft eine neue Eskalation hervor. Allmählich entwickeln sich dabei echte Verbesserungen der Überlebenshilfsmittel, die aber nicht zu verbessertem Überleben führen (weil die andere Seite in dem Wettlauf ebenfalls immer besser wird). Koevolution – der Rüstungswettlauf, das heißt die parallele Evolution der Gene in unterschiedlichen Genvorräten – heißt also eine Antwort für den Skeptiker, nach dessen Ansicht die natürliche Selektion ein ausschließlich negativer Vorgang ist.
Die zweite Antwort ist die Koadaptation, die gemeinsame Evolution von Genen desselben Genvorrates. Im Genvorrat der Geparden funktionieren Fleischfresserzähne am besten in Verbindung mit einem Fleischfresserdarm und Fleischfresserverhalten. Wie wir gesehen haben, stellt die Selektion auf der Ebene der Gene harmonierende Gruppen her, aber nicht, indem sie die ganzen Komplexe auswählt, sondern indem sie innerhalb des Genvorrates jeweils den Teil des Komplexes begünstigt, der von den anderen Teilen beherrscht wird. In dem wechselnden Gleichgewicht der Genvorräte kann es mehrere stabile Lösungen für das gleiche Problem geben. Aber sobald eine dieser stabilen Lösungen die Oberhand gewonnen hat, werden ihre Bestandteile durch die weitere Selektion egoistischer Gene begünstigt. Unter anderen Ausgangsbedingungen hätte ebenso gut eine zweite Lösung die Oberhand gewinnen können. In beiden Fällen sind die Bedenken des Skeptikers, wonach die natürliche Selektion ausschließlich ein negativer, der Beseitigung dienender Vorgang ist, zerstreut. Natürliche Selektion ist positiv und konstruktiv. Sie ist nicht negativer als ein Bildhauer, der Stücke von einem Marmorblock entfernt. Aus den Genvorräten formt sie Komplexe aus Genen, die gegenseitig in Wechselbeziehung stehen und koadaptiert sind – im Grundsatz sind sie egoistisch, aber aus pragmatischen Gründen kooperieren sie. Die Einheit, die der darwinistische Bildhauer bearbeitet, ist der Genvorrat einer Art.
Ich habe in den letzten Kapiteln viel Mühe darauf verwendet, vor schlechter Poesie in der Naturwissenschaft zu warnen. Aber das Anliegen meines Buches ist dem genau entgegengesetzt: Naturwissenschaft ist poetisch, sollte poetisch sein, kann von Poeten viel lernen und sollte eine gute poetische Bilder- und Metaphernwelt zur Inspiration heranziehen. «Das egoistische Gen» ist ein metaphorisches Bild, möglicherweise sogar ein gutes, aber es kann schrecklich in die Irre führen, wenn man die Metapher der Personifizierung nicht richtig begreift. Richtig gedeutet, kann es uns den Weg zu umfassendem Verständnis und fruchtbarer Forschung eröffnen. In diesem Kapitel habe ich mit der Metapher des personifizierten Gens erklärt, in welchem Sinn «egoistische» Gene auch «kooperativ» sind. Das beherrschende Bild im nächsten Kapitel zeigt die Gene einer Art als genaue Beschreibung der Umweltbedingungen, unter denen ihre Vorfahren gelebt haben – als genetisches Totenbuch.
10 Das genetische Totenbuch
Gedenke der Weisheit aus alten Zeiten …
W. B. Yeats, The Wind Among the Reeds (1899)
Mein erster Schulaufsatz, an den ich mich erinnern kann, trug die Überschrift «Tagebuch eines Pfennigs». Man sollte sich
Weitere Kostenlose Bücher