Der entzauberte Regenbogen
denn das Moore-Gesetz ist offenbar nicht mit einem einzigen, selbst laufenden Vorgang zu erklären. Die Verbesserung der integrierten Schaltkreise führte im Laufe der Jahre zu einer Unmenge von Veränderungen, und deshalb ist es verwunderlich, dass man eine offensichtlich stetige exponentielle Verbesserung beobachtet. Dennoch war eine gewisse Koevolution von Software und Hardware in der Geschichte der Computerentwicklung sicher eine treibende Kraft. Insbesondere gibt es etwas, das dem Überschreiten einer Schwelle entspricht, nachdem man einen «Nachholbedarf» zu erkennen glaubte.
In der Frühzeit der Personalcomputer gab es nur primitive Textverarbeitungssoftware; mein Programm schaffte noch nicht einmal den Umbruch am Ende der Zeilen. Dann begeisterte ich mich für die Programmierung in Maschinensprache und (ich schäme mich ein wenig, es einzugestehen) machte mir die Mühe, mein eigenes Textverarbeitungsprogramm namens «Scrivener» zu schreiben; mit ihm verfasste ich dann den blinden Uhrmacher - sonst wäre das Buch früher fertig geworden! Während ich Scrivener entwickelte, wuchs meine Frustration darüber, dass ich den Cursor mit der Tastatur über den Bildschirm bewegen sollte. Ich wollte einfach auf eine Stelle zeigen . Eine Zeit lang spielte ich mit einem Joystick herum, wie er damals für Computerspiele im Gebrauch war, aber ich fand nicht heraus, wie man es macht. Schließlich gewann ich den deutlichen Eindruck, dass der Software, die ich schreiben wollte, eine entscheidende neue Entwicklung der Hardware fehlte. Wie ich später erfuhr, war das Gerät, das ich verzweifelt suchte und mir nicht vorstellen konnte, in Wirklichkeit längst erfunden: Dieses Gerät war natürlich die Maus.
Die Maus war eine neue Entwicklung der Hardware, die Douglas Engelbart in den sechziger Jahren erdacht hatte. Er hatte vorausgesehen, dass sie Software eines ganz neuen Typs ermöglichen würde. Diese neue Software, die wir heute in ihrer weiterentwickelten Form als grafische Benutzeroberfläche bezeichnen, wurde in den siebziger Jahren von der höchst kreativen Mannschaft am Xerox-Forschungszentrum (PARC) entwickelt, jenem Athen der modernen Welt. Zu einem kommerziellen Erfolg wurde sie 1983 durch Apple und dann kopierten es andere Firmen unter Namen wie VisiOn, GEM und – die heute erfolgreichste Version von allen – Windows. Entscheidend ist an der Geschichte, dass die explosionsartige Entwicklung einer genialen Software in einem gewissen Sinn aufgestaut wurde; sie wartete darauf, über die Welt hereinzubrechen, aber dazu musste erst die entscheidende Hardwarekomponente vorhanden sein: die Maus. Später stellte dann die Ausbreitung der grafischen Benutzeroberfläche neue Anforderungen an die Hardware, die immer schneller und leistungsfähiger werden musste, um die Voraussetzungen für die Grafik zu erfüllen. Das wiederum machte eine Welle noch raffinierterer neuer Programme möglich, insbesondere solcher, die sich schneller Grafiken bedienen. Die Spirale aus Software und Hardware setzte sich fort, und ihr bislang letztes Produkt ist das World Wide Web. Wer weiß, was ihre zukünftigen Umdrehungen noch bringen werden?
Der Blick in die Zukunft zeigt, dass man die Leistungsfähigkeit [der Computer] zu den verschiedensten Zwecken nutzen wird. Es kommt zu allmählichen Verbesserungen und Erleichterungen bei der Nutzung, und gelegentlich überschreitet man eine Schwelle, sodass etwas Neues möglich wird. So war es bei der grafischen Benutzeroberfläche. Alle Programme wurden grafisch, und der gesamte Output wurde grafisch; das kostet eine Menge Prozessorleistung, aber es hat sich gelohnt … Ich habe sogar ein eigenes Gesetz über die Software, das Nathan-Gesetz. Es besagt, dass die Software schneller wächst, als das Moore-Gesetz es prophezeit. Und das ist der Grund, warum es ein Moore-Gesetz gibt.
Nathan Myhrvold, Chief Technology Officer, Microsoft Corporation (1998)
Kehren wir nun zur Evolution des menschlichen Gehirns zurück: Was brauchen wir, um die Analogie zu vervollständigen? Eine geringfügige Verbesserung der Hardware vielleicht, eine kleine Zunahme der Gehirngröße, die unbemerkt geblieben wäre, wenn sie nicht eine neue Softwaretechnologie ermöglicht hätte, die ihrerseits die Spirale der Koevolution in Gang setzte? Die neue Software veränderte die Umwelt, in der die Hardware des Gehirns der natürlichen Selektion ausgesetzt war. Das erzeugte einen starken darwinistischen Druck zur Verbesserung
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