Der entzauberte Regenbogen
Interpretationen, die das Gegenteil besagen, ist die Theorie des Gens keine «mechanistische» Theorie. Das Gen ist ebenso wenig als chemisches oder physikalisches Gebilde zu verstehen wie die Zelle oder auch der Gesamtorganismus. Darüber hinaus spricht die Theorie zwar von Genen, wie die Atomtheorie von Atomen spricht, aber es gilt daran zu denken, dass zwischen den beiden Theorien ein grundlegender Unterschied besteht. Atome existieren selbständig und man kann ihre Eigenschaften als solche untersuchen. Sie lassen sich sogar isolieren. Zwar können wir sie nicht sehen, aber wir können mit ihnen unter verschiedenen Bedingungen und in verschiedenen Kombinationen umgehen. Wir können sie einzeln handhaben. Nicht so das Gen. Es existiert nur als Teil des Chromosoms und das Chromosom existiert nur als Teil einer Zelle. Wenn ich nach einem lebenden Chromosom frage, das heißt nach der einzig wirksamen Art eines Chromosoms, kann es mir niemand aushändigen, außer in seiner lebenden Umgebung, genau wie niemand mir einen lebenden Arm oder ein lebendes Bein aushändigen kann. Die Lehre von der Relativität der Funktionen gilt für das Gen ebenso wie für alle Körperorgane. Sie existieren und funktionieren nur im Zusammenhang mit anderen Organen. Deshalb sind wir mit der neuesten biologischen Theorie wieder da, wo wir mit der ältesten angefangen haben: bei einer Kraft, die man Leben oder Psyche nennt und die nicht nur eine Kraft eigener Art darstellt, sondern auch in jeder ihrer Ausdrucksformen einzigartig ist.
Das ist ganz und gar, zutiefst und von vorne bis hinten falsch. Und es ist genau der Punkt, auf den es hier ankommt. Seit der Revolution, die Watson und Crick losgetreten haben, kann man das Gen isolieren. Man kann es reinigen, in Flaschen füllen, kristallisieren, als digital codierte Information ablesen, auf Papier drucken, einem Computer eingeben, wieder ablesen, in ein Reagenzglas bringen und erneut in ein Lebewesen einschleusen, wo es dann genauso funktioniert wie zuvor. Wenn – vermutlich im Jahr 2003 – das Human Genome Project abgeschlossen ist, in dessen Rahmen die vollständige Gensequenz eines Menschen aufgeklärt werden soll, kann man das gesamte menschliche Genom bequem auf zwei handelsübliche CD-ROMs schreiben, und daneben bleibt noch Platz für ein Lehrbuch der molekularen Embryologie. Die beiden CD-ROMs könnte man in den Weltraum schießen, und dann könnte die Menschheit getrost aussterben, wohl wissend: Mit Hilfe dieser beiden Silberscheiben wäre irgendwann in ferner Zukunft und an einem fernen Ort eine weit genug fortgeschrittene Zivilisation in der Lage, wieder einen Menschen aufzubauen. Vorerst aber, hier auf unserer alten Erde, ist die zutiefst digitale Natur der DNA – die Tatsache, dass man die Unterschiede zwischen Individuen und biologischen Arten nicht nur so ungefähr bestimmen, sondern genau zählen kann – der Grund, dass DNA-Fingerabdrücke ein so großes Potential bergen.
Ich behaupte hier sehr selbstsicher, die DNA jedes Menschen sei einzigartig, aber in Wirklichkeit ist auch das nur eine statistische Aussage. Theoretisch könnte in der sexuellen Lotterie auch zweimal die gleiche Gensequenz gezogen werden. Schon morgen könnte ein «eineiiger Zwillingsbruder» von Isaac Newton geboren werden. Aber die Zahl der Menschen, die zur Welt kommen müssten, damit ein solches Ereignis auch nur in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt, wäre größer als die Zahl der Atome im Universum.
Anders als Gesicht, Stimme oder Handschrift bleibt die DNA in der Mehrzahl unserer Zellen vom Kleinkindalter bis in die späten Lebensjahre gleich, und man kann sie auch durch Üben oder kosmetische Chirurgie nicht verändern. Unser DNA-Text besteht aus einer derart riesigen Menge von Buchstaben, dass wir genau voraussagen können, wie viele davon wir beispielsweise mit Brüdern oder Cousins ersten Grades gemeinsam haben, im Gegensatz etwa zu Cousins zweiten Grades oder zufällig ausgewählten Personen aus der Gesamtbevölkerung. Deshalb eignet sich die DNA nicht nur dazu, Personen mit einer einzigartigen Kennung zu versehen, die bei Bedarf mit Spuren von Blut oder Samenflüssigkeit abgeglichen werden kann, sondern auch zum Nachweis der Vaterschaft und anderer genetischer Verwandtschaftsverhältnisse. In Großbritannien gestatten die Gesetze die Einwanderung von Personen, die beweisen können, dass ihre Eltern bereits die britische Staatsangehörigkeit besitzen. In mehreren Fällen wurden
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