Der entzauberte Regenbogen
DNA-Abschnitt ist, desto geringer ist die Fehlerwahrscheinlichkeit, genau wie man einen Verdächtigen umso sicherer überführen kann, je länger die Reihe ist, in der er bei der Identifizierung steht. Der Unterschied besteht nur darin, dass eine solche Reihe nicht nur aus ein paar Dutzend Menschen bestehen müsste, sondern aus Millionen oder sogar Milliarden, damit sie in ihrer Zuverlässigkeit an die DNA-Analyse heranreicht. Von diesem quantitativen Unterschied abgesehen, trifft der Vergleich mit der Reihe zur Identifizierung zu. Wie wir noch sehen werden, gibt es in der DNA auch eine Entsprechung zu unserer hypothetischen Reihe mit rasierten Männern und einem bärtigen Verdächtigen. Aber zunächst brauchen wir noch einige Kenntnisse über die DNA-Fingerabdrücke.
Für die Untersuchung nehmen wir natürlich die einander entsprechenden Teile des Genoms vom Verdächtigen und vom Tatort. Diese Genomteile wählt man danach aus, ob sie in der Bevölkerung eine große Vielfalt aufweisen. Einem Darwinisten würde dabei auffallen, dass gerade die Teile, in denen es keine großen Unterschiede gibt, für das Überleben des Organismus häufig eine besonders wichtige Rolle spielen. Alle nennenswerten Abweichungen in diesen wichtigen Genen wurden höchstwahrscheinlich durch den Tod ihrer Besitzer aus der Population beseitigt – das ist die natürliche Selektion nach Darwin. Andere Teile des Genoms dagegen sind sehr variabel, vielleicht weil sie für das Überleben keine Bedeutung haben. Aber das ist noch nicht alles: In Wirklichkeit sind auch manche nützlichen Gene sehr vielgestaltig. Die Gründe sind umstritten. Es ist vielleicht eine kleine Abschweifung, aber … Was wäre dieses stressreiche Leben, wenn wir nicht die Freiheit hätten, abzuschweifen?
Nach Ansicht der «neutralistischen» Denkschule, die auf den angesehenen japanischen Genetiker Motoo Kimura zurückgeht, sind nützliche Gene in mehreren unterschiedlichen Formen gleichermaßen nützlich. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass sie nutzlos sind, sondern es besagt nur, dass ihre verschiedenen Formen die jeweilige Aufgabe gleich gut erfüllen. Wenn man sich vorstellt, dass Gene ihre Rezepte in Worten aufschreiben, kann man die unterschiedlichen Formen eines Gens mit den identischen, in unterschiedlichen Schrifttypen geschriebenen Worten vergleichen: Sie bedeuten das Gleiche, und aufgrund des Rezeptes entsteht das gleiche Produkt. Genetische Veränderungen («Mutationen»), die keine Auswirkungen haben, «sieht» die natürliche Selektion nicht. Was ihren Effekt auf das Leben des Tieres angeht, sind sie überhaupt keine Mutationen, aber aus der Sicht des Kriminaltechnikers können sie dennoch nützliche genetische Abweichungen sein. In der Bevölkerung gibt es an einem solchen Locus (Ort auf dem Chromosom) eine große Vielfalt, und diese Vielfalt kann man für die genetischen Fingerabdrücke ausnutzen. Die andere Theorie der Abweichungen ist zu der von Kimura genau entgegengesetzt: Danach haben die unterschiedlichen Formen der Gene tatsächlich unterschiedliche Wirkungen, aber aus irgendeinem besonderen Grund hat die natürliche Selektion beide in der Population beibehalten. Ein Blutprotein könnte beispielsweise in zwei verschiedenen Formen (α und β) vorkommen, die für zwei Infektionskrankheiten namens Alfluenza und Bettacose anfällig machen, gegen die jeweils andere jedoch eine Resistenz vermitteln. Eine Infektionskrankheit braucht in der Regel eine gewisse Mindestdichte anfälliger Opfer in der Bevölkerung, denn sonst kann sich die Epidemie nicht ausbreiten. Herrscht in einer Population der Typ α vor, treten häufig Alfluenzaepidemien auf, aber keine größeren Wellen der Bettacose. Also begünstigt die natürliche Selektion den Typ β, der gegen Alfluenza immun ist. Diese Begünstigung ist so stark, dass β nach einiger Zeit in der Population vorherrscht. Jetzt dreht sich der Spieß um: Es treten Bettacose-, aber keine Alfluenzaepidemien auf. Deshalb ist nun der Typ α besser dran, der keine Bettacose bekommt. In einer solchen Bevölkerung kann die Vorherrschaft von α und β abwechseln, oder beide pendeln sich in der Mitte auf einer Mischung oder einem «Gleichgewicht» ein. In beiden Fällen wird man an dem fraglichen Genlocus eine starke Formenvielfalt beobachten, und das ist für die Fingerabdruck-Experten nützlich. Das ganze Phänomen bezeichnet man als «frequenzabhängige Selektion», und es gilt als einer der Gründe für das große Ausmaß
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