Der entzauberte Regenbogen
der Wiedergabe durch Koestler so:
Meine Frau sieht sich im Ordinationszimmer bei Prof. Dr. J. v. H. am 18. September 1916 «Die Kunst» an; es fallen ihr Reproduktionen von Bildern des Malers Schwalbach auf; sie nimmt sich vor, den Namen zu merken, um gelegentlich die Originale suchen und sehen zu können. Indem öffnet sich die Tür und das Stubenmädchen ruft unter die Wartenden: «Ist Frau Schwalbach anwesend? Sie soll ans Telefon kommen!»
Abzuschätzen, welche Wahrscheinlichkeit gegen einen solchen Zufall spricht, lohnt sich wahrscheinlich nicht, aber wir können zumindest einige Faktoren festhalten, die wir dazu wissen müssen. «In dem Augenblick, als sich die Tür öffnet» ist ein wenig ungenau. Öffnete sich die Tür eine Sekunde oder zwanzig Minuten, nachdem sie sich vorgenommen hatte, sich die Bilder von Schwalbach anzusehen? Wie lang durfte der zeitliche Abstand sein, damit ihr der Zufall noch imponierte? Von großer Bedeutung ist natürlich die Frage, wie häufig der Name Schwalbach vorkommt: Hätte er Schmidt oder Strauß gelautet, wären wir viel weniger beeindruckt, und noch viel mehr würden wir uns wundern, wenn er Twistledon-Wykeham-Fiennes oder Knatchbull-Huguesson geheißen hätte. Das Wiener Telefonbuch ist in meiner örtlichen Bibliothek nicht vorhanden, aber ein kurzer Blick in ein anderes großes deutschsprachiges Verzeichnis, nämlich das von Berlin, ergibt ein halbes Dutzend Personen namens Schwalbach: Der Name ist also nicht besonders häufig, und deshalb kann man durchaus verstehen, dass die Dame überrascht war. Aber wir müssen noch ein wenig genauer über die Größe der Pednsza nachdenken. Ähnliche Zufälle könnten auch Menschen in anderen Wartezimmern von Ärzten und Zahnärzten erlebt haben, aber auch bei Behörden und so weiter; und das nicht nur in Wien, sondern auch anderswo. Die Größe, die man im Kopf behalten muss, ist die Zahl der Gelegenheiten für Zufälle, die man für ebenso bemerkenswert wie das tatsächliche Ereignis halten würde, wenn sie einträten.
Betrachten wir nun einmal einen andersartigen Zufall, bei dem sich noch schwerer feststellen lässt, wie man eigentlich die Wahrscheinlichkeit berechnen soll. Ich meine das oft beschriebene Erlebnis, dass man zum ersten Mal seit Jahren von einem alten Bekannten träumt und dann am nächsten Tag aus heiterem Himmel einen Brief von ihm bekommt. Oder dass man erfährt, er sei in dieser Nacht gestorben. Oder dass man erfährt, nicht er sei in dieser Nacht gestorben, sondern sein Vater. Oder dass man erfährt, sein Vater sei nicht gestorben, sondern habe im Lotto gewonnen. Wie man sofort erkennt, gerät die Größe der Pednsza sofort außer Kontrolle, wenn man nicht aufpasst.
Häufig werden solche Berichte über Zufälle von weit her gesammelt. Die Leserbriefspalten beliebter Zeitungen enthalten Zuschriften von Leuten, die niemals geschrieben hätten, wäre ihnen nicht ein solch verblüffender Vorfall begegnet. Um zu entscheiden, ob wir uns davon beeindrucken lassen, müssen wir die Auflage der Zeitung kennen. Liegt sie bei vier Millionen, wäre es verwunderlich, wenn wir nicht jeden Tag von einem verblüffenden Zufall lesen würden: Er muss nur einem von vier Millionen Menschen widerfahren, und schon bestehen gute Aussichten, dass in dem Blatt darüber berichtet wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine einzelne Person einen bestimmten Zufall erlebt – dass beispielsweise ein längst vergessener alter Bekannter in der Nacht stirbt, in der jemand zufällig von ihm träumt –, lässt sich schwer berechnen. Aber ganz gleich, wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist: Für vier Millionen Menschen liegt sie mit Sicherheit höher.
Wir haben also sicher keinen Anlass, uns zu wundern, wenn wir in der Zeitung von einem Zufall lesen, der einem Leser oder jemand anderem irgendwo auf der Welt zugestoßen ist. Diese Argumentation ist ganz und gar stichhaltig. Dennoch lauert dahinter wohl immer noch etwas, das uns beunruhigt. Auch wer mir ohne weiteres zustimmt, dass es dem Leser eines Massenblattes nicht zu imponieren braucht, wenn ein anderer Leser einen Zufall erlebt und sich die Mühe macht, deshalb einen Leserbrief zu schreiben, kann vielleicht kaum den kalten Schauder auf dem Rücken abschütteln, wenn ihm selbst ein solcher Zufall widerfährt. Das ist nicht nur persönliche Voreingenommenheit, sondern man kann es ernsthaft begründen. Das Gefühl beschleicht fast jeden, den ich kenne; man kann fragen, wen man
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