Der entzauberte Regenbogen
einen echten Zusammenhang zwischen Geschlecht und Handschrift gibt. Ein Skeptiker könnte das anzweifeln: Er würde vielleicht einräumen, dass die Handschrift von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, aber er würde leugnen, dass es in diesen Schwankungen ein geschlechtsspezifisches Muster gibt. Wie können wir entscheiden, ob meine Behauptung oder die des Skeptikers richtig ist? Einfach meiner Versicherung zu glauben reicht nicht. Wie ein abergläubischer Spieler in Las Vegas könnte ich ohne weiteres eine Glückssträhne für eine echte, nachvollziehbare Fähigkeit halten. Jedenfalls kann man mit Fug und Recht einen Beweis verlangen. Aber was ist ein überzeugender Beweis? Die Antwort: ein Beweis, der offen gelegt und richtig analysiert wurde.
In meiner Behauptung geht es ohnehin nur um Statistik. Ich behaupte nicht (in diesem hypothetischen Beispiel – in Wirklichkeit behaupte ich überhaupt nichts), ich könne das Geschlecht des Verfassers bei jedem handgeschriebenen Schriftstück mit Sicherheit feststellen. Ich sage nur, ein bestimmter Teil der großen Schwankungsbreite unter den Handschriften habe mit dem Geschlecht zu tun. Deshalb werde ich zwar häufig Fehler machen, aber wenn man mir beispielsweise 100 Handschriftenproben gibt, werde ich sie genauer nach männlichen und weiblichen Urhebern trennen können, als es bei einer reinen Zufallsauswahl der Fall wäre. Um meine Behauptung zu überprüfen, muss man also berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ergebnis allein durch zufälliges Raten zustande kommen könnte. Damit sind wir wieder einmal bei der Aufgabe, die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Zusammentreffens zu ermitteln.
Bevor wir uns in die Statistik vertiefen, müssen wir bei der Planung des Experiments einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Der Zusammenhang – das heißt die gesuchte Nichtzufälligkeit - ist eine Gesetzmäßigkeit, die das Geschlecht in eine Beziehung zur Handschrift setzt. Wichtig ist, dass wir dieses Thema nicht mit äußeren Variablen durcheinander bringen. Bei den Handschriftenproben, die ich bekomme, sollte es sich beispielsweise nicht um private Briefe handeln, denn sonst könnte ich das Geschlecht der Verfasser einfach aus dem Inhalt des Briefes erraten, anstatt mich dazu der Handschrift zu bedienen. Auch sollten nicht alle Mädchen aus einer Schule und alle Jungen aus einer anderen stammen. Bestimmte Aspekte der Handschrift könnten bei allen Schülern einer Schule ähnlich sein, weil sie voneinander oder von demselben Lehrer gelernt haben. Das könnte zu echten Unterschieden in der Handschrift führen, die möglicherweise sogar interessant sind, aber in ihnen spiegeln sich unter Umständen die verschiedenen Schulen und nur nebenher die verschiedenen Geschlechter wider. Ebenso sollte man die Kinder keinen Absatz aus einem beliebten Buch abschreiben lassen. Auf mich hätte es großen Einfluss, wenn man dazu Pferdegeschichten à la Black Beauty oder Biggles Fliegerabenteuer wählen würde (Leser, die in einem anderen kulturellen Umfeld aufgewachsen sind, werden stattdessen ihre eigenen Titel einsetzen).
Ebenso ist es natürlich von großer Bedeutung, dass ich keines der Kinder kenne, denn sonst könnte ich die individuelle Handschrift erkennen, und dann wüsste ich auch das Geschlecht. Auf den Blättern dürfen nicht die Namen der Kinder stehen, aber es muss eine Möglichkeit geben, den Verfasser oder die Verfasserin später noch zu erkennen. Dazu kann man einen geheimen Code verwenden, aber auch bei dessen Auswahl muss man Vorsicht walten lassen. Man darf beispielsweise nicht grüne Punkte für männliche und gelbe Punkte für weibliche Schriftproben verwenden. Zwar würde ich dann die Zuordnung nicht kennen, aber ich könnte erraten, dass Gelb das eine und Grün das andere Geschlecht kennzeichnet, und das wäre bereits eine große Hilfe. Besser ist es, jedes Blatt mit einer Nummer zu versehen. Dabei darf man aber nicht den Jungen die Nummern 1 bis 10 und den Mädchen die Nummern 11 bis 20 geben; das wäre gleichbedeutend mit den gelben und grünen Punkten. Die Zettel müssen vielmehr zufällig ausgewählte Zahlen tragen, und zu der Liste mit der Zuordnung darf ich keinen Zugang haben. Ein Experiment mit solchen Vorsichtsmaßnahmen heißt in der Fachliteratur über Arzneimittelerprobungen «Doppelblindversuch».
Nehmen wir nun einmal an, wir haben alle Vorsichtsmaßnahmen eines Doppelblindversuchs getroffen, und jemand hat mir 20 anonyme, bunt
Weitere Kostenlose Bücher