Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
vertragen?“, vollendete sie seinen völlig missratenen Satz und lächelte unverbindlich. „Ich habe Feuer in der Bibliothek gemacht. Komm mit.“
Sie musterte ihn fragend, als er sich nicht von der Stelle rührte, und deutete auf ihr Glas mit heißer Milch. „Was möchtest du trinken?“
„ Eigentlich … ich … ich weiß nicht recht.“
„Ein Seemann, der nicht weiß, was er trinken will?“, neckte sie ihn und ihre Augenbrauen zuckten belustigt in die Höhe. „Wo gibt ’s denn so was?“
„Ich bin kein Seemann mehr.“
„Das gibt es ebenso wenig. Einmal Seemann, immer Seemann – oder du bist nie einer gewesen.“
„Das war einer von Clausings klugen Sprüchen.“
„ Du bist ebenfalls ein Clausing“, erwiderte Alicia in einem Ton, der deutlich machte, wie wenig es ihr behagte, wenn er abfällig über seinen Adoptivvater sprach.
„Hast du ihn gekannt?“
„Wer kann schon behaupten, einen anderen Menschen zu kennen?“
„Dann bist du ihm zumindest begegnet.“
Als sie nicht reagierte, hob er den Kopf und erkannte die Antwort darauf in der Trauer in ihren Augen.
„So hast du dir deine Heimkehr vermu tlich nicht vorgestellt“, lenkte sie ihn behutsam zu einem anderen Gesprächsthema.
„Nein.“ Sein Blick flog zu dem Foto seiner Väter. „Nein, ganz bestimmt nicht. Obwohl ich hätte wissen müssen, dass dieses Wiedersehen mehr Ähnlichkeit mit einer Eiszeit haben würde als mit einem netten Ausflug.“
„ Susanne hat dir jede Woche mindestens zwei Briefe geschrieben. Du hättest sie wenigstens vorwarnen können, dass du beabsichtigst zu kommen.“
„ Und dann? Was hätte das schon geändert?“
„Da hast du auch wieder Recht.“
„Ich weiß.“ Es klang ungeduldig , gerade so als wäre er es leid, noch jemanden von seiner Unfehlbarkeit überzeugen zu müssen, da dies doch offensichtlich war. „Natürlich hatte ich nicht erwartet, dass sie mir vor Wiedersehensfreude um den Hals fallen. Derart naiv bin ich schon lange nicht mehr. Ich wollte … zumindest hatte ich gehofft, mit Matthias …“
„ Ja, das haben wir uns alle gewünscht damals, denn im Gegensatz zu uns war er bis zum Schluss ganz fest von deiner Rückkehr überzeugt. Bis zu seinem letzten Atemzug hat er auf dich gewartet, auf seinen ältesten Sohn. Weißt du, ich habe mich oft gefragt, wieso er ausgerechnet an dir einen derartigen Narren gefressen hatte, wo du ihn über all die Jahre wie Luft behandelt hast. Er hat dich immer verteidigt, wenn jemand etwas Negatives über dich äußerte. Wirklich immer, Manuel. Du darfst deiner Familie diese unterkühlte Begrüßung nicht übel nehmen. Es war nicht leicht für sie, Matthias’ letzten Wunsch unerfüllt zu sehen.“
„ Glaubst du etwa, für mich war es leicht? Zehn Jahre Alleinsein.“
Seine wieder und wieder unvermittelt zu Tage tretende Verletzlichkeit berührte sie tief. Sie wusste, was es hieß, eine Familie zu verlieren und niemanden mehr zu haben, mit dem man seine Sorgen und Freuden teilen, in dessen Armen man sich ausweinen und neue Kraft tanken konnte. Sie kannte das bedrückende Gefühl, am Morgen in einem leeren Haus aufwachen und alleine an einem Tisch essen zu müssen. Alleine den Erinnerungen an eine glücklichere Zeit nachzuhängen. Kein Geld dieser Welt konnte einen Menschen vor dieser Einsamkeit bewahren.
„Es war deine eigene Entscheidung.“
„Natürlich.“ Er griff nach der Whiskeyflasche im Barwagen und studierte das Etikett. „Matthias hat diese Marke bevorzugt.“
„Damien trinkt ausschließlich Wein und deine mam aus Solidarität mit Lisa momentan gar nichts. Also muss die Flasche tatsächlich noch von Matthias sein.“
Im ersten Augenblick wollte er dem Impuls nachgeben, sie wieder zurückzustellen, was natürlich albern gewesen wäre. Niemand würde ihm verübeln, wenn er sich davon bediente. Nicht einmal Matthias. Wie sehr wünschte er sich, er hätte jetzt gemeinsam mit seinem Adoptivvater die Flasche leeren und sich dabei alles, was ihn seit Jahren belastete, von der Seele reden können. Und wenn sie sich dann endlich die Birnen bis zum Eichstrich zugeschüttet und sich mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Verwünschungen und Beschimpfungen bombardiert hätten, wären sie die dicksten Freunde gewesen.
„Wie möchtest du deinen Whiskey? Mit Wasser oder lieber wie die Amis on the rocks ?“
„Ich bin zur Hälfte Ire“, erinnerte er sie, während sie den Whiskey in ein Glas aus Waterford-Kristall einschenkte und
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