Der Erdrutsch (German Edition)
irritiert, bevor sie antwortete: „Nein,
doch, also, wie soll ich das sagen …?“ Sie betrachtete die Frau
neben sich eingehender.
„ Ich
bin ja auch nur kurz hier. Mein Sohn holt mich gleich ab. Dann fahren
wir nach Hause.“
Die Frau hatte sich ihr zugewandt, um besser mit ihr sprechen zu
können. Luise betrachtete die Frau skeptisch. „Jaja, glauben Sie
mir ruhig.“ Sie guckte sich kurz um, bevor sie Luise zuraunte: „Ich
kann doch nicht zwischen den ganzen Verrückten hier bleiben. Mein
Sohn kommt bestimmt gleich zurück.“
Sie rückte ein wenig näher an Luise heran, schaute ihr in die
Augen. Diese Augen erschreckten Luise zutiefst. Noch nie in ihrem
Leben hatte Luise eine so tiefe Traurigkeit gesehen.
„ Sie
müssen wissen, dass mein Sohn der beste Mensch ist, den es gibt. Er
kommt jeden Tag zu mir.“ Sie schüttelte kurz den Kopf. „Nun ja,
nicht wirklich jeden Tag. Neulich war er mal für ein paar Tage nicht
da. Aber da hat er jeden Tag bei mir angerufen. Er ist so ein lieber
Junge.“
Luise wusste nicht, was sie der Frau glauben sollte. Sie wirkte
vollkommen normal, aber aus irgendeinem Grund musste sie ja hier
sein. Niemand kam einfach so in eine psychiatrische Klinik.
Plötzlich trat ein unheimlicher Glanz in die Augen der Frau. Langsam
griff sie nach der Kette an Luises Hals. „Ach, Sie kennen meinen
Sohn ja.“
Liebevoll strich sie über das Symbol auf dem Anhänger. Ihre Hände
rochen nach Niveacreme, der zarte Duft eines Parfums wehte zu Luise
herüber.
„ Das
ist seine Kette. Dann brauche ich Ihnen ja gar nichts von ihm zu
erzählen. Es ist ein so guter Sohn.“ Wieder machte die Frau eine
Pause. „Hat er Sie zu mir geschickt?“, wollte sie dann wissen.
Luise nickte leicht mit dem Kopf. Sie war verwirrt. Was meinte die
Frau? Wieso sollte sie ihren Sohn kennen? „Ich wusste doch, dass er
irgendwann mal ein nettes Mädchen kennenlernt.“ Wieder blickte sie
sie mit ihren traurigen Augen an. „Das ist aber nett von Ihnen,
dass sie mich hier besuchen kommen. Es ist manchmal ein bisschen
einsam hier.“ Sie beugte sich weiter zu Luise herüber, um ihr ins
Ohr zu flüstern: „Die anderen sind hier alle verrückt, müssen
Sie wissen.“ Sie lehnte sich wieder zurück. „Ja ja, diese Kette
hat mein Sohn damals von meinem Mann zur Geburt bekommen. Er hätte
sie niemals aus der Hand gegeben. Das hat er mir versprochen.“ Sie
wandte Luise den Kopf zu. „Bei Ihnen ist das natürlich etwas
anderes. Sie sind ja mit ihm verlobt.“
Sie erhob sich und ging langsam quer über die Wiese davon.
Nachdenklich blieb Luise auf der Bank sitzen, blickte der Frau nach
und überlegte, was sie nun tun sollte.
„ Na,
hast du dich mit Frau Schwencke gut unterhalten?“ Eine jüngere
Frau stand neben ihr. „Ich habe euch beobachtet. Sie hat dir
bestimmt erzählt, dass ihr Sohn sie gleich abholt, oder?“ Luise
nickte.
„ Tja,
das erzählt sie allen. Ihr Sohn kommt auch oft hierher, aber abholen
wird er sie so schnell nicht.“ Die Frau setzte sich, schlug die
Beine übereinander und fixierte Luise mit freundlichem Blick.
„ Was
hat Frau … wie heißt die noch? Schwencke?“ Die Frau nickte zur
Bestätigung. „Also, was hat Frau Schwencke denn? Warum ist sie
hier?“ Luise hatte so viele Fragen im Kopf, das Gespräch mit der
älteren Dame hatte sie völlig verwirrt. Was passierte hier?
Die Frau neben Luise dachte eine Weile nach. Dann nickte sie einmal
kurz mit dem Kopf, so, als würde sie sich gerade einen innerlichen
Ruck geben. Sie schaute Luise direkt ins Gesicht.
„ Viel
kann ich Dir nicht erzählen. Ich arbeite hier als Betreuerin, und
von dem bisschen, was ich weiß, unterliegt das meiste der
Schweigepflicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Die Frau hat es
nicht leicht gehabt in ihrem Leben.“ Sie lehnte sich zurück. „Sie
hat ein wunderbares Leben gehabt, war verheiratet, hat zwei Kinder
bekommen. Alles war in Ordnung bei ihr. Und dann ist von heute auf
morgen alles zusammengebrochen.“
„ Was
ist denn passiert?“
„ Irgendwas
muss mit dem einen Sohn geschehen sein. Vielleicht war er krank. Oder
etwas anderes sehr dramatisches. Dann ist der Mann abgehauen. Einer
der Söhne hat schließlich Drogen genommen und lebt auf der Straße.
Den habe ich hier allerdings noch nie gesehen. Es wäre sicherlich
auch schwierig, den hier herein zu lassen. Der andere kommt aber
regelmäßig vorbei, um seine Mutter zu besuchen.“ Die Betreuerin
schüttelte den Kopf.
„ Die
arme Frau. Was
Weitere Kostenlose Bücher