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Der Erdrutsch (German Edition)

Der Erdrutsch (German Edition)

Titel: Der Erdrutsch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Martin Meyer
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Lechners gewesen. Lebt die Oma
eigentlich noch? Mein Gott, die müsste jetzt so an die neunzig
sein.“ Walter schenkte sich einen frischen Kaffee ein, nahm wieder
anständig Zucker. Auch Paul bekam eine weitere Tasse.
    „ Nein,
ich habe da keine alte Frau gesehen. Die lebte zumindest nicht mehr
auf dem Hof. Vielleicht ist die im Altersheim.“ Paul trank seinen
kalten Kaffee, Walter lächelte.
    „ Das
würden die nicht übers Herz bringen. Die Oma ins Heim abschieben,
nein. Das Leben da unten – oder ich sollte lieber sagen: da oben? –
ist noch ein anderes als hier bei uns. Da kümmert man sich um die
Alten noch in der Familie.“ Er schlürfte genussvoll einen Schluck
aus der Tasse.
    „ Aber
wo war ich stehen geblieben?“, Walter schien einen Moment lang
verwirrt zu sein.
    „ Sie
haben davon erzählt, dass alles so schön war“, erinnerte Paul
ihn.
    „ Ach
ja, ich sagte gerade, dass wir glaubten, nichts könne uns
erschüttern. Aber daran sollte man nie glauben. Denn dann war da
dieser Unfall. Dominik ist ausgebüxt. Vor dem Supermarkt. Elsbeth
hatte wegen irgendetwas mit ihm geschimpft. Er hat geweint, fand sich
ungerecht behandelt. Da ist er auf die Straße gelaufen. Ich weiß
noch genau, dass die Sonne an dem Tag zum ersten mal so richtig warm
war. Deshalb war ich nicht mit zum Einkaufen gekommen, sondern habe
im Garten eine Schaukel für Dominik aufgebaut. Das Auto hat ihn
frontal erwischt. Er war sofort tot. Ich sehe es vor mir, als wenn es
gestern gewesen wäre: Elsbeth wurde von der Polizei hier
vorbeigebracht. Sie war überall voller Blut. Ich dachte erst, sie
selbst habe einen Unfall gehabt. Dann habe ich in ihre Augen
geblickt. Da war mir sofort klar, dass es Dominik war.“
    Walter schluckte schwer. Ein Zittern lief über seine Unterarme, sein
rechter Mundwinkel zuckte leicht. Er stand auf, ließ sich am der
Spüle ein Glas Wasser ein. Er trank mit tiefen Schlucken. Dann
drehte er sich wieder zu Paul um.
    „ Der
Blick war gebrochen. Kennst du das? Nein, vermutlich nicht. Es ist
wie ein Schleier, der sich über die Linse des Auges zieht.
    Danach war Elsbeth nicht mehr dieselbe. In den ersten Tagen dachte
ich noch, sie packt das, aber bei der Beerdigung brach sie vollkommen
in sich zusammen. Seitdem hat sie nie wieder diese Lebenslust gehabt,
in die ich mich einmal verliebt hatte. Es hat Wochen gedauert, bis
sie mir von dem Unfall erzählt hat, bis sie überhaupt wieder
gesprochen hat. Sie hat jahrelang nicht gelacht. Erst als sie aus dem
Gefängnis zurück kam, konnte sie das wieder.“
    Er füllte noch ein Glas mit Wasser, setzte sich dann wieder an den
Küchentisch.
    „ Das
tut mir alles sehr leid“, sagte Paul. Er versuchte Walter direkt in
die Augen zu blicken. Da sah er auch bei ihm die tiefe Trauer, die
Sehnsucht nach dem Leben, das einmal war. „Und was passierte dann?“
    „ Dann
ist das passiert, was meistens in solchen Situationen geschieht: Wir
haben beide getrauert, jeder für sich, jeder allein. Ich habe alles
daran gesetzt, um Elsbeth wieder aufzurichten, wollte wieder einen
Sinn in ihr Leben bringen. Aber es ging nicht mehr. Es war, als wenn
man ihr den Stecker herausgezogen hätte. Sie hatte sich von allen
noch verbliebenen Freunden zurückgezogen. Sie wollte niemanden mehr
sehen. Selbst mich nicht. Sie hat überlegt, in ein anderes Haus zu
ziehen, weil sie überall Dominik gesehen hat. Alles hat sie an ihn
erinnert. Als es langsam besser wurde, wollten wir es noch einmal
versuchen. Wir wollten einen Neuanfang. Wir wollten noch ein Kind.
Aber Elsbeth konnte nicht mehr schwanger werden. Ob das körperliche
oder seelische Gründe hatte konnte ihr damals niemand mit Sicherheit
sagen. Erst hat sie das in eine neue Krise gestürzt. Nach einer
Weile wurde es besser. Da haben wir uns entschlossen, ein Kind zu
adoptieren. Trotz der Erfahrungen, die Elsbeth selbst gemacht hat.“
    „ Welche
Erfahrungen? War sie denn adoptiert?“, unterbrach Paul ihn.
    „ Ja,
sie kannte ihre leiblichen Eltern nicht. Zeitlebens hat sie nach
ihnen gesucht, aber ohne Ergebnis. Sie wusste nichts über sie. Sie
kannte nur ihr eigenes Geburtsdatum. Sie war sich nicht einmal
sicher, ob der Geburtsort in ihrem Pass richtig war. Heute ist das ja
alles anders. Aber das war 1956. In der Zeit funktionierte die Welt
noch anders als heute.“
    Walter erhob sich, um die Keksschale wieder aufzufüllen, die sich in
der letzten Minuten geleert hatte. Dann fuhr er fort:
    „ Sie
hat ihre Adoptiveltern geliebt, sehr

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