Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Tageslicht matt durchleuchtet war, und auf der Rückseite der Tür war der tausendblättrige Baum eingeschnitzt.
»Sei willkommen in diesem Haus, mein Junge«, sagte der Pförtner und führte ihn, ohne weiter mit ihm zu reden, durch Räume und Gänge zu einem Innenhof, der weit innerhalb des Gebäudekomplexes lag. Kein Dach wölbte sich über dem Hof, der teils mit Steinplatten, teils mit Rasen bedeckt war, und ein Springbrunnen plätscherte unter jungen Bäumen in der Sonne. Ged stand eine Weile allein hier und wartete. Er rührte sich nicht, aber er hörte sein Herz schlagen, denn es war ihm, als sei er von unsichtbaren Wesen und Mächten umgeben; er wußte, daß die Mauern hier nicht nur mit Stein, sondern mit einer Magie, weit stärker als Stein, gebaut waren; und über diesem Raum, dem innersten im Hause der Weisen, wölbte sich kein Dach, sondern der offene Himmel. Plötzlich gewahrte er einen weißgekleideten Mann, der ihn durch das fallende Wasser des Brunnens ansah.
Als sich ihre Augen trafen, zwitscherte ein Vogel in den Zweigen des Baumes. In diesem Augenblick verstand Ged das Singen des Vogels und die Sprache des sich ins Becken ergießenden Wassers, er begriff die Form der Wolken und den Anfang und das Ende des Windes, der durch die Blätter rauschte; er selbst schien ein vom Sonnenlicht gesprochenes Wort zu sein.
Der Augenblick ging vorbei, und alles um ihn war wieder wie zuvor – oder doch fast wie zuvor. Er näherte sich dem Erzmagier und kniete vor ihm nieder, während er ihm Ogions Brief übergab.
Der Erzmagier Nemmerle, der Hüter von Rok, war alt. Man erzählte sich, daß er der älteste noch lebende Mann seiner Zeit sei. Seine Stimme war dünn und gebrechlich, sie klang wie Vogelgezwitscher, als er Ged mit gütigen Worten willkommen hieß. Sein Haar, sein Bart und sein Umhang waren weiß, alles Dunkle und Schwere hatten die langen Jahre seines Lebens gelichtet, und er glich Treibholz, das ein Jahrhundert lang von den Stürmen des Meeres herumgeworfen worden war und nun leicht und silberweiß war. »Meine Augen sind zu alt, ich kann nicht lesen, was mir der Meister schreibt«, sagte er mit seiner zittrigen Stimme. »Lies mir den Brief vor, mein Junge!«
Ged entzifferte die wenigen Zeilen des Briefes, der in hardischen Runen geschrieben war, und las laut vor: »Ehrwürdiger Hüter Nemmerle! Ich schicke Ihnen einen, der unter den Zauberern von Gont der größte sein wird, wenn der Wind die Wahrheit spricht.« Unterschrieben war er nicht mit Ogions wahrem Namen, den Ged nicht kannte, sondern mit Ogions Rune, dem Zeichen des geschlossenen Mundes.
»Derjenige, der das Erdbeben im Zaum hält, hat dich geschickt. Sei mir deshalb doppelt willkommen. Der junge Ogion stand meinem Herzen nahe, als er hierherkam von Gont. Jetzt erzähl mir von der See und wie deine Überfahrt verlaufen ist, mein Junge.«
»Wir segelten mit günstigem Wind, gnädiger Herr, bis auf den gestrigen Sturm.«
»Mit welchem Schiff bist du gekommen?«
»Mit der Schatten , einem Handelsschiff von den Andraden.«
»Und wer will, daß du hierherkommst?«
»Ich will es selbst.«
Der Erzmagier blickte auf Ged und schaute dann in die Ferne und begann in einer Sprache zu reden, die Ged nicht kannte. Er wisperte vor sich hin, wie es alten Menschen eigen ist, die ihre Gedanken über Jahre und Inseln schweifen lassen. Aber zwischen dem Gemurmel hörte Ged die Worte, die der Vogel gesungen und die das fallende Wasser geflüstert hatten. Der Hüter von Rok schlug Ged in keinen Bann, und doch war die Macht in seiner Stimme so groß, daß sich Geds Sinne vorübergehend verwirrten und er sich allein in einer riesigen Wüste zwischen Schatten stehen sah. Gleichzeitig wußte er aber auch, daß er in dem sonnigen Hof stand, in dem der Brunnen lustig plätscherte.
Ein großer schwarzer Vogel, ein Rabe von Osskil, schritt gravitätisch über die Steinplatten und den Rasen der Terrasse. Er steuerte auf Nemmerle zu und blieb neben dem Saum seines Gewandes stehen. Dort hockte er, bewegungslos, in seiner ganzen Schwärze, mit seinem schwertähnlichen Schnabel und seinen blanken Knopfaugen, mit denen er Ged von der Seite her musterte. Er pickte dreimal an den weißen Stab, auf den sich Nemmerle stützte, und der alte Zauberer hörte auf zu murmeln und lächelte. »Geh jetzt und spiel, mein Kind«, sagte er, als wäre Ged noch ein kleiner Junge. Ged ließ sich wieder vor ihm auf dem Knie nieder, und als er aufblickte, war der Erzmagier
Weitere Kostenlose Bücher