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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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einem grauen, dunklen nördlichen Himmel. Im vergangenen Winter hatten sie Wellen »so hoch wie Gewitterwolken« gesehen. Der Begriff von Bergen war ihnen fremd. Waren sie hoch oben auf der Welle, so erblickten sie, noch meilenweit entfernt, die nächste, die langsam auf sie zurollte. Können Flöße solche Stürme aushalten? wollte er wissen, und sie sagten, ja, aber nicht immer, wenn sie sich im Frühjahr in den Straßen von Balatran trafen, dann fehlte immer das eine oder andere Floß, manchmal drei, sechs …
    Sie heirateten sehr jung. Blaukrabbe, der Junge, der seinen Namen auf dem Rücken tätowiert trug, und das hübsche Mädchen Albatros waren Mann und Frau, obwohl er erst siebzehn und sie zwei Jahre jünger war. Es gab viele solche jungen Ehen auf den Flößen. Kleinkinder, die an Leinen, von den vier Hauptstützen der Hütte ausgehend, angebunden waren, krabbelten überall herum; während der Mittagshitze kamen sie alle im Schatten der Hütten zusammen und lagen, ein Haufen schlafender oder quicklebendiger kleiner Wesen, auf- und übereinander. Die älteren Kinder mußten auf die jüngeren aufpassen. Frauen und Männer teilten sich in die Arbeiten, die verrichtet werden mußten. Sie wechselten sich ab, den großen, braunblättrigen Seetang zu ernten, den Niglu der Straßen von Balatran, der gezackt war wie Farn und sechzig bis achtzig Fuß lang sein konnte. Alle halfen zusammen, wenn es darum ging, den Niglu zu einer Art Tuch zu klopfen, die starken Fasern zu Seilen zu drehen und in Netze zu knüpfen, Fische zu trocknen oder Werkzeuge aus Walfischbein zu fertigen und herzustellen, was alles sonst noch zum alltäglichen Leben des Floßvolkes nötig war. Aber sie fanden immer Zeit zum Plaudern und Schwimmen, und Vorgaben, wann gewisse Arbeiten fertiggestellt sein mußten, gab es bei ihnen nicht. Der Begriff Stunde war ihnen unbekannt, nur Tage und Nächte zählten. Nach einigen Tagen und Nächten kam es Arren vor, als habe er schon ewig auf den Flößen gelebt. Obehol war ein Traum, und dahinter lagen schwächere Träume, und noch viel ferner lag ein Traum, in dem er als Prinz auf Enlad gelebt hatte.
    Als er endlich auf das Floß des Häuptlings gerufen wurde, blickte ihn Sperber eine Weile an und sagte: »Du siehst aus wie der Arren, den ich im Brunnenhof gesehen habe, so geschmeidig wie ein goldener Aal. Es geht dir hier also recht gut, mein Junge!«
    »Ja, mein Gebieter.«
    »Aber was heißt das ›hier‹? Wir haben die bewohnte Welt hinter uns gelassen. Wir sind über alle Seekarten hinausgesegelt … Ich habe vor langen Zeiten vom Floßvolk reden hören, aber es immer für eine der Legenden des Südbereichs gehalten, etwas, das keine Basis in der Wirklichkeit hat. Doch wir sind von dieser Legende gefunden worden, und unser Leben wurde von ihr gerettet.«
    Er sprach lächelnd, als hätte auch er an dieser träumerischen, zeitlosen Lebensweise teilgenommen, doch sein Gesicht war hager, und in seinen Augen lag eine Tiefe, die kein Licht kannte. Arren sah dies, und er ging ihm nicht aus dem Wege.
    »Ich bin des Vertrauens …«, sagte er und stockte, »ich bin des Vertrauens, das Sie in mich setzten, nicht wert.«
    »Wieso, Arren?«
    »Dort … auf Obehol, als Sie mich wirklich einmal brauchten – Sie waren verwundet und bedurften der Hilfe –, habe ich nichts getan. Das Boot trieb steuerlos, und ich ließ es treiben. Sie litten Schmerzen und ich tat nichts, um sie zu lindern. Ich sah Land … ich sah Land, und ich habe nicht einmal versucht, das Boot zu wenden!«
    »Sei ruhig, Junge!« gebot der Magier, und seine Stimme klang so bestimmt, daß Arren gehorchte. Dann sagte er: »Erzähl mir, was du während dieser Zeit gedacht hast.«
    »Nichts, mein Gebieter – nichts! Ich dachte, daß alles vergeblich sei, daß es nutzlos wäre, irgend etwas zu tun. Ich dachte, daß Sie Ihre Zauberkünste verloren hätten – nein, daß Sie nie welche besessen, ja, mich gar in eine Falle gelockt hätten.« Der Schweiß brach ihm aus, und er mußte sich zwingen, weiterzureden. »Ich hatte Angst vor Ihnen. Ich fürchtete den Tod. Ich habe ihn so gefürchtet, daß ich Sie nicht anschauen konnte, weil ich Angst hatte, daß Sie sterben könnten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, außer daß … daß es eine Möglichkeit gäbe, und ich nicht zu sterben bräuchte, wenn ich den Ort finden würde. Aber die ganze Zeit lang wurde das Leben schwächer, wie wenn da eine große Wunde wäre, aus der das Blut

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