Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
Arren. Der Häuptling wiederholte die Silben, aber sie sagten ihm offensichtlich nichts. Und das war für Arren ein Beweis, sicherer als jeder andere, daß diese Leute jahraus, jahrein auf der See lebten, so weit draußen, so weit von jeder Küste, von jedem Land entfernt, daß sich ein Landvogel nie dorthin verirren würde, daß kein Mensch wußte, das es sie gab.
    »Er war dem Tode nahe«, sagte der Häuptling. »Er muß schlafen. Du gehst zurück zu Sterns Floß. Ich werde dich wieder rufen lassen.« Er erhob sich. Er war sich offensichtlich etwas unsicher; man spürte, daß er nicht genau wußte, wie er Arren behandeln sollte, als Gleichgestellten oder als einen Jüngling. Arren zog in seiner jetzigen Lage letzteres vor, er nahm hin, daß er einfach fortgeschickt wurde. Doch dann stand er plötzlich vor einer besonderen Schwierigkeit. Sein Floß war abgetrieben worden, und mehr als hundert Schritt matt glänzendes, leicht bewegtes Wasser lag zwischen ihnen.
    Der Häuptling der Kinder der Hohen See richtete noch einmal das Wort an ihn: »Schwimm!« befahl er.
    Arren ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Es war kühl und fühlte sich angenehm auf seiner sonnenheißen Haut an. Er schwamm zum anderen Floß hinüber und zog sich hinauf. Er sah sich fünf oder sechs Kindern und jungen Leuten gegenüber, die ihn mit unverhohlener Neugier beobachteten. Ein ganz kleines Mädchen krähte belustigt: »Du schwimmst wie ein Fisch an der Leine.«
    »Wie soll ich denn sonst schwimmen?« fragte Arren etwas bestürzt, aber höflich; er hätte zu einem Menschen, so winzig wie diesem, nicht grob sein können. Die Kleine sah wie eine polierte Miniatur aus Ebenholz aus, ganz zierlich und zerbrechlich. »So!« rief sie, glitt wie ein Aal in das funkelnde, glitzernde, ruhelose Wasser und war verschwunden. Erst nach einer geraumen Zeit und in einer unglaublichen Entfernung sah er ihren schwarzen, glatten Kopf aus dem Wasser auftauchen und hörte auch ihren schrillen Ruf.
    »Komm!« sagte ein Junge, der in Arrens Alter sein mußte, obwohl er seiner Größe und Breite entsprechend höchstens wie ein Zwölfjähriger aussah; er blickte ernst drein, und auf seinem Rücken streckte sich die Tätowierung einer blauen Krabbe. Er sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser, alle sprangen, selbst der Dreijährige. Arren blieb nichts anderes übrig, als auch zu springen, und er versuchte, nicht zu spritzen.
    »Wie ein Aal«, sagte der Junge, der an seiner Schulter aufgetaucht war.
    »Wie ein Delphin«, sagte ein hübsches Mädchen mit einem reizenden Lächeln und verschwand in der Tiefe.
    »Wie ich«, quietschte der Dreijährige und hüpfte auf und ab wie ein Flaschenkorken.
    Bis spät in die Nacht hinein und den ganzen, goldenen Tag lang, der folgte, und während all der Tage, die folgten, schwamm, redete und arbeitete Arren mit den jungen Leuten auf Sterns Floß. Und von all den Abenteuern, die er seit dem Morgen der Tag- und Nachtgleiche, da er mit Sperber Rok verließ, erlebt hatte, schien ihm dieses hier das merkwürdigste zu sein, denn es lag ganz außerhalb von allem, was er auf der Reise oder in seinem Leben je erlebt hatte, und es hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ihm noch bevorstand. Und nachts, wenn er zwischen den anderen unter den Sternen lag, dachte er: »Es kommt mir vor, als sei ich gestorben, und das hier ist ein Leben nach dem Tode, jenseits der Welt, unter den Söhnen und Töchtern des Meeres …«
    Immer bevor er einschlief, schaute er hinauf in den südlichen Himmel und suchte den gelblichen Stern und die Rune des Endens, und er sah Gobardon, und manchmal sah er das kleinere und manchmal auch das größere Dreieck. Aber das Sternbild stieg jetzt später auf, und seine Augen fielen ihm oft zu, bevor es sich ganz vom Horizont gelöst hatte. Die Flöße bewegten sich Tag und Nacht immer weiter nach Süden, doch die See blieb sich gleich, denn das Ewig-Veränderliche ändert sich niemals; die warmen Regengüsse des Mais brachen über sie herein und versiegten wieder, die Sterne schienen am nächtlichen Himmel, und den ganzen Tag über strahlte die Sonne.
    Arren wußte, daß sie ihr Leben nicht immer auf diese unwirkliche, traumhaft schöne Weise zubringen konnten. Er fragte, wie es im Winter sei, und sie erzählten von endlosem Regen, von heftigen Stürmen, wie die einzelnen Flöße getrennt und fern voneinander sich Woche um Woche vorwärts bewegten, Wellenberg nach Wellenberg erklommen und wieder hinabschossen, unter

Weitere Kostenlose Bücher