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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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muß meine Kleine holen«, sagte sie.
    »Wie wollt Ihr nach Hause gelangen?«
    »Zu Fuß. Es sind nur einige Meilen das Tal hinauf.« Sie zeigte an dem Ort vorbei ins Landesinnere, wo das Mitteltal breit und sonnenbeschienen wie in einem Schoß zwischen zwei Armen des Berges lag. »Das Dorf liegt am Fluß, und mein Gehöft liegt eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Es ist ein hübscher Winkel Eures Königreichs.«
    »Seid Ihr dort sicher?«
    »O ja. Ich werde die Nacht bei meiner Tochter in Thalmund verbringen. Und im Dorf kann ich mich auf alle verlassen. Ich werde nicht allein sein.«
    Ihre Blicke trafen sich für einen Augenblick, aber keiner sprach den Namen aus, den beide dachten.
    »Werden sie wieder aus Rok kommen?« fragte sie. »Und die ›Frau auf Gont‹ oder ihn suchen?«
    »Ihn nicht. Falls sie das wieder vorschlagen, werde ich es untersagen«, erklärte Lebannen, ohne zu ahnen, wieviel er ihr mit diesen vier Worten verriet. »Aber ihre Suche nach einem neuen Obersten Magier oder nach der Frau aus der Vision des Meisters der Formgebung kann sie möglicherweise hierherbringen. Und vielleicht zu Euch.«
    »Sie werden auf dem Eichenhof willkommen sein. Doch nicht so willkommen, wie Ihr es wärt.«
    »Ich werde kommen, wenn ich kann«, versprach er ein wenig streng, ein wenig sehnsüchtig, »falls ich kann.«

Zu Hause
    ALS DIE BEWOHNER von Thalmund erfuhren, daß der König an Bord war, der neue König, der junge König, von dem die neuen Lieder berichteten, kamen die meisten von ihnen zu den Docks herunter. Sie kannten die neuen Lieder noch nicht, aber sie kannten die alten, und der alte Relli kam mit seiner Harfe und sang ein Stück aus Morreds Heldentat, denn ein König von Erdsee war gewiß Morreds Erbe. Dann kam der König selbst an Deck, so jung, hochgewachsen und schön, wie man es sich nur wünschen konnte, und mit ihm ein Magier aus Rok, eine Frau und ein kleines Mädchen in alten Kleidern, die nicht viel besser waren als die einer Bettlerin, aber der König behandelte sie, als wären sie eine Königin und eine Prinzessin, also waren sie es vielleicht. »Vielleicht ist sie seine Mutter«, meinte Shinny und versuchte über die Köpfe der vor ihr stehenden Männer hinweg etwas zu sehen, doch dann packte ihre Freundin Mala sie am Arm und sagte in einer Art geflüstertem Aufschrei: »Es ist – es ist Mutter!«
    »Wessen Mutter?« fragte Shinny, und Mala antwortete: »Meine. Und das ist Therru.« Aber sie drängte sich in der Menge nicht vor, nicht einmal dann, als ein Offizier des Schiffs an Land kam und den alten Relli aufforderte, für den König zu spielen. Sie wartete mit den anderen. Sie sah, wie der König die Würdenträger von Thalmund empfing, und hörte, wie Relli für ihn sang. Sie sah zu, wie er sich von seinen Gästen verabschiedete, denn das Schiff solle vor Einbruch der Nacht auslaufen, sagten die Leute, und heim nach Havnor segeln. Die letzten, die über die Gangway kamen, waren Therru und Tenar. Von jeder der beiden verabschiedete sich der König mit der formellen Umarmung, legte Wange an Wange und kniete nieder, um Therru zu umarmen. »Ah!« machte die Menge auf dem Dock. Als die beiden die mit einem Geländer versehene Gangway herunterkamen, ging die Sonne in goldenem Dunst unter und legte einen breiten goldenen Weg über die Bucht. Tenar schleppte einen schweren Ranzen und einen Sack; Therru hielt das Gesicht gesenkt und hinter den Haaren verborgen. Die Gangway wurde eingezogen, die Matrosen sprangen in die Takelage, die Offiziere riefen Befehle, und das Schiff Delphin war wieder unterwegs. Jetzt drängte sich Mala endlich durch die Menge.
    »Hallo, Mutter«, sagte sie, und Tenar erwiderte: »Hallo, Tochter.« Sie küßten einander, Mala hob Therru hoch und rief: »Wie du gewachsen bist! Du bist doppelt so groß wie vorher. Kommt jetzt, kommt mit nach Hause.«
    Doch an diesem Abend war Mala in dem hübschen Haus ihres jungen Ehemanns, des Kaufmanns, ihrer Mutter gegenüber ein wenig gehemmt. Sie betrachtete sie einige Male nachdenklich, beinahe prüfend. »Es hat mir nie etwas bedeutet, Mutter«, sagte sie an der Tür zu Tenars Schlafzimmer, »das alles – die Rune des Friedens – und daß du den Ring nach Havnor gebracht hast. Es war einfach wie in einem der Lieder. Vor tausend Jahren! Aber du warst es tatsächlich, nicht wahr?«
    »Ich war ein Mädchen aus Atuan«, antwortete Tenar. »Vor tausend Jahren. Und jetzt könnte ich tausend Jahre lang schlafen.«
    »Dann geh zu Bett.«

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