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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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zeigte halb zehn. Auf den Bänken an der Wand saßen die Menschen und husteten, schlossen die müden Augen oder starrten abwechselnd auf die rote Digitalanzeige unter der Decke und auf ihre Wartenummer, als wäre es das Los ihres Lebens und jedes Pling eine neue Ziehung.
    Er hatte keinen Zettel gezogen, er wollte nur vor der Heizung der Apotheke sitzen. Doch er hatte das Gefühl, dass die blaue Jacke zu seinem Pech sehr auffällig war, denn die Angestellten hatten begonnen, ihn zu beobachten. Er blickte aus dem Fenster. Durch den Dunst sah er die Konturen einer blassen, kraftlosen Sonne. Ein Polizeiwagen rollte vorbei. Sie hatten hier drinnen Überwachungskameras. Er musste weiter, aber wohin? Ohne Geld wurde er aus Bars und Cafés hinausgeworfen. Und jetzt hatte er nicht einmal mehr seine Kreditkarte. Gestern Abend war er zu der Erkenntnis gelangt, dass er trotz allem Geld brauchte, obwohl er dadurch riskierte, dass die Karte aufgespürt wurde. Er war vom Heim aus losgegangen und hatte schließlich ein gutes Stück entfernt einen Geldautomaten gefunden. Aber die Maschine hatte seine Karte einbehalten, ohne ihm etwas auszuzahlen, womit ihm lediglich bestätigt wurde, was er bereits wusste: Sie hatten ihn eingekreist, und er wurde wieder belagert.
     
    *
     
    Der fast verwaiste Restaurantsaal des Biscuit badete in Panflötenmusik. Es war die ruhige Phase zwischen Mittag- und Abendessen, so dass Tore Bjørgen sich ans Fenster stellte und verträumt auf die Karl Johans gate blickte. Nicht weil ihn die Aussicht sonderlich ansprach,sondern weil die Heizkörper unter den Fenstern angebracht waren und ihm nie so richtig warm werden wollte. Er hatte schlechte Laune. Er musste die Tickets nach Kapstadt innerhalb der nächsten zwei Tage abholen und hatte gerade bestätigt bekommen, was er schon lange wusste: dass er kein Geld hatte. Trotz seiner Doppelschichten in der letzten Zeit war es einfach verschwunden. Ein Grund war natürlich der Rokokospiegel, den er letzten Herbst gekauft hatte, aber dazu kam auch noch zu viel Champagner, zu viel Koks und zu viele andere teure Zerstreuungen. Nicht dass ihm sein Leben aus den Händen geglitten wäre, aber um ehrlich zu sein, war es an der Zeit, aus diesem Teufelskreis auszuscheren: Koks, um zu feiern, Pillen, um zu schlafen, und wieder Koks, um lang genug arbeiten zu können, um wiederum seine Laster finanzieren zu können. Und ausgerechnet jetzt war sein Konto absolut leer. In den letzten fünf Jahren hatte er Weihnachten und Neujahr in Kapstadt verbracht, statt nach Hause nach Vegårdshei zu fahren, in dieses engstirnige religiöse Kaff, in dem ihn doch nur die Vorwürfe seiner Eltern erwarteten und die schlecht kaschierte Abscheu von Onkeln und Vettern. Wie gerne tauschte er die drei Wochen unerträglicher Kälte, trostloser Dunkelheit und Langeweile gegen Sonne, gut aussehende Menschen und ein vibrierendes Nachtleben. Und gegen Spiele. Die gefährlichen Spiele. Im Dezember und Januar wurde Kapstadt überflutet von europäischen Reklamebüros und ihren Filmteams mit männlichen und weiblichen Models. Und in diesem Milieu fand er reichlich Gleichgesinnte. Das Spiel, das ihm am besten gefiel, war Blind Date. In einer Stadt wie Kapstadt ging man immer ein gewisses Risiko ein, aber es war geradezu lebensgefährlich, im Dunkeln einen Mann bei den Abwasserkanälen in Cape Flats zu treffen. Und trotzdem tat er es. Er war sich nicht wirklich sicher, warum er solche idiotischen Sachen machte, er wusste nur, dass er die Gefahr brauchte, um zu spüren, dass er am Leben war. Ein Spiel musste einen potenziellen Verlust bedeuten, um interessant für ihn zu sein.
    Tore Bjørgen atmete ein. Seine Tagträume waren durch einen Geruch gestört worden, der, wie er hoffte, nicht aus der Küche kam. Er drehte sich um.
    »Hello again« , sagte der Mann, der sich direkt hinter ihn gestellthatte. Wäre Tore Bjørgen ein weniger professioneller Kellner gewesen, hätte er sicher ein missbilligendes Gesicht gezogen. Der Mann vor ihm trug nicht nur die unkleidsame blaue Winterjacke, die offensichtlich so etwas wie der letzte Schrei unter den Drogenabhängigen auf der Karl Johans gate war, sondern war überdies unrasiert, hatte rot geränderte Augen und stank wie ein ganzes Pissoir.
    » Remember me?« , fragte der Mann. » At the men’s room . «
    Tore Bjørgen dachte zuerst, der Mann meine einen Nachtclub mit dem gleichen Namen, ehe er begriff, dass er an die Toilette dachte. Und erst in diesem Moment

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