Der Erl�ser
Plastik eingeschlagen. Mit einem großen, aufgeklebten Umschlag.
Er erkannte sie trotz ihres erschreckten Gesichtsausdrucks sofort wieder.
»Get in there« , sagte er leise.
Martine Eckhoff zögerte, aber er brauchte nur die Pistole höher zu heben.
Er bedeutete ihr, dass sie ins Wohnzimmer gehen solle, und folgte ihr. Bat sie höflich, sich in den Ohrensessel zu setzen, während er selbst auf dem Sofa Platz nahm.
Endlich löste sie den Blick von der Pistole und sah ihn an. »Entschuldigen Sie meine Aufmachung«, sagte er. »Wo ist Harry? « » What do you want ? «, fragte sie.
Er war überrascht über ihre Stimme. Sie klang ruhig, beinahe warm.
»Harry Hole finden«, sagte er. »Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Was wollen Sie von ihm?«
»Überlassen Sie mir das Fragenstellen. Wenn Sie mir nicht sagen, wo Harry Hole ist, muss ich Sie erschießen. Verstehen Sie mich?«
»Ich weiß es nicht. Also schießen Sie. Wenn Sie glauben, dass Ihnen das hilft.«
Er suchte in ihren Augen nach Furcht. Ohne welche zu finden. Vielleicht lag das an ihren Pupillen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Pupillen.
»Was tun Sie hier?«, fragte er.
»Ich wollte die Konzertkarte bringen, die ich Harry versprochen habe.«
»Und Blumen?«
»Nur so ein Einfall.«
Er schnappte sich ihre Tasche, die sie auf den Tisch gestellt hatte, durchsuchte sie, bis er ein Portemonnaie und eine Scheckkarte fand. Martine Eckhoff. Geboren 1977. Adresse Sorgenfrigata, Oslo. »Sie sind Stankic«, sagte sie. »Sie waren das im weißen Bus, nicht wahr?«
Er sah sie wieder an, und sie erwiderte seinen Blick. Dann nickte sie langsam:
»Sie sind hier, weil Sie wollen, dass Harry Sie zu Jon Karlsenführt, nicht wahr? Und jetzt wissen Sie nicht, was Sie tun sollen, oder?«
»Halten Sie Ihr Maul«, sagte er. Doch seine Worte klangen nicht so, wie sie sollten. Denn sie hatte recht: Die Sache glitt ihm immer mehr aus den Händen. Sie saßen schweigend in dem dunklen Wohnzimmer, während es draußen langsam hell wurde.
Schließlich ergriff sie das Wort:
»Ich kann Sie zu Jon Karlsen bringen.«
»Was?«, fragte er verblüfft.
»Ich weiß, wo er ist. «
»Wo denn?«
»Auf einem Bauernhof.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil die Heilsarmee Besitzer dieses Hofes ist und ich die Verantwortung für die Belegungslisten habe. Die Polizei hat mich angerufen, um sich zu vergewissern, dass sie dort in den nächsten Tagen ungestört sind.«
»Aha. Und warum sollten Sie mich dorthin führen wollen?« »Weil Harry Ihnen das nicht verraten würde«, sagte sie schlicht. »Und dann werden Sie ihn erschießen.«
Er sah sie an. Und ihm wurde bewusst, dass sie das alles wirklich so meinte. Er nickte langsam. »Wie viele sind da auf dem Hof?« »Jon, seine Freundin und ein Polizist.«
Ein Polizist. Ein Plan begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen.
»Wie weit ist es bis dort?«
»Jetzt in der Rushhour sicher eine Dreiviertelstunde. Vielleicht eine Stunde«, sagte sie. »Mein Wagen steht draußen.«
»Warum helfen Sie mir? «
»Das habe ich doch schon gesagt. Ich will, dass es vorbei ist.« »Sie sind sich aber schon im Klaren darüber, dass ich Sie in den Kopf schieße, wenn Sie bluffen?«
Sie nickte.
»Dann fahren wir jetzt«, sagte er.
*
Um vierzehn Minuten nach sieben wusste Harry, dass er am Leben war. Er wusste das, weil er in jedem Nerv die Schmerzen spürte. Und weil das Rudel Hunde mehr wollte. Er öffnete ein Auge und sah sich um. Seine Kleider lagen im Hotelzimmer verstreut auf dem Boden. Aber er war wenigstens allein. Seine Hand tastete nach dem Glas auf dem Nachtschränkchen und fand es. Leer. Er fuhr mit einem Finger über den Glasboden und leckte ihn ab. Süß. Der ganze Alkohol war verdunstet.
Er kämpfte sich aus dem Bett und nahm das Glas mit ins Bad. Während er es mit Wasser füllte, vermied er es, in den Spiegel zu sehen. Er trank langsam. Die Hunde protestierten, aber er konnte sie in Schach halten. Noch ein Glas Wasser. Das Flugzeug. Er blickte auf sein Handgelenk. Wo zum Teufel war die Uhr? Und wie spät war es? Er musste hier raus, musste nach Hause. Nur vorher noch schnell einen Drink … Er fand seine Hose, zog sie an. Seine Finger fühlten sich taub und geschwollen an. Seine Tasche. Da. Die Kulturtasche. Schuhe. Aber wo war das Handy? Einfach verschwunden. Er wählte die neun, bekam die Rezeption, hörte, wie der Drucker ratternd eine Rechnung ausdruckte und der Portier dreimal die Uhrzeit wiederholte, ohne dass er
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