Der Eroberer
Priester im Beichtstuhl verteilt ein Universalheilmittel und der Psychiater in seiner Praxis das Gegenteil.
»Glaubst du vielleicht, ich kenne mich nicht?« fragte er. »Ich habe mich angesehen.«
Schlief sie etwa? Er drehte sich um. Sie sah aus dem Fenster. »Ich habe mich angesehen«, wiederholte er. »Mit den Augen von Jung. Wie kann ich diesen Menschen helfen, wenn ich selbst unter dem mo rbus sacer einer Neurose leide? Diese Frage hat sich Jung gestellt …«
»Dieser alte Sensationalist. Dieser alte Rationalisierer seiner
eigenen Mystik. Kein Wunder, daß du es nie zum Psychiater
gebracht hast.«
»Das hat doch nichts mit Jung zu tun.«
»Kann ich vielleicht etwas dafür?«
»Du hast mir selbst gesagt, daß du genauso denkst. Es hat keinerlei Sinn …«
»Nach einer Woche harter Arbeit sage ich das vielleicht, aber
sonst nie. Gib mir noch eine Zigarette.«
Er machte das neue Päckchen auf und steckte zwei in den Mund. Er zündete sie umständlich an und gab ihr eine. Fast gleichgültig bemerkte er, wie die Spannung wuchs. Der Streit war, wie immer, nichtssagend. Aber nicht der Streit war das Wichtige; er war lediglich der Ausdruck der lebensnotwendigen Beziehung, deren Wichtigkeit allerdings auch wieder in Frage gestellt werden konnte.
»Du sagst nicht die Wahrheit.« Er merkte, daß es jetzt keinen Abbruch mehr gab. Das Ritual lief.
»Doch«, sagte sie. »Ich spüre weder den Zwang, meine Arbeit aufzugeben, noch habe ich den Wunsch, ein Mißerfolg zu sein und …«
»Mißerfolg? Du bist viel melodramatischer als ich.«
»Du bist zu eifrig, Karl. Du willst über dich selbst hinauswachsen.«
Er stieß ein trockenes Lachen aus. »An dieser Stelle würde ich meine Arbeit aufgeben, Monica. Du bist keinen Deut besser dafür geeignet als ich.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Jeder, wie er sich einschätzt.« »Denk bloß nicht, daß ich eifersüchtig bin. Du wirst nie begreifen, wonach ich strebe.«.
Ihr Lachen war gezwungen. »Der moderne Mensch auf der Suche nach der Seele, was? Der moderne Mensch auf der Suche nach einer Krücke – würde ich sagen. Du kannst es auslegen, wie du willst.«
»Wir zerstören die Mythen, die die Welt drehen.«
»Jetzt mußt du bloß noch die wichtige Frage stellen, womit wir sie ersetzen. Du bist abgestanden und blöd, Karl. Du kannst die Dinge einfach nicht rationell betrachten. Nicht einmal dich selbst.«
»Na und? Du behauptest, daß der Mythos unwichtig ist.«
»Ich behaupte, daß die Realität, die ihn geschaffen hat, wichtig ist.«
»Jung wußte, daß der Mythos auch Realität schaffen kann.«
»Was beweist, was für ein benebelter, alter Narr er gewesen ist.«
Er streckte ein Bein aus und berührte dabei aus Versehen ihren Fuß. Er zog es sofort zurück und kratzte sich am Kopf. Sie lag da, rauchte und lächelte.
»Komm«, sagte sie. »Streiten wir uns doch ein wenig über Christus.«
Er schwieg. Sie gab ihm den Zigarettenstummel, und er
drückte ihn im Aschenbecher aus. Er sah auf die Uhr. Es war
zwei Uhr morgens.
»Warum?« fragte er.
»Weil wir müssen.« Sie legte ihm die Hand unter den Nakken und zog seinen Kopf an ihre Brust. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«
Wir Protestanten müssen uns früher oder später mit der Frage beschäftigen: sollen wir die »Imitation Christi« in dem Sinn verstehen, daß wir sein Leben kopieren und – wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf – seine Stigmata nachäffen; oder in dem tieferen Sinn, daß wir unser eigenes Leben so aufrichtig leben wie er seines mit allen Folgen gelebt hat? Es ist nicht leicht, ein Leben zu leben, das dem Christi nachgebildet ist, aber es ist unaussprechlich schwerer, das eigene Leben so aufrichtig zu leben wie Christus es getan hat. Jeder, der das tut, wird … zu unrecht verurteilt, verspottet, gefoltert und gekreuzigt werden … Eine Neurose ist eine Spaltung der Per sönlichkeit.
(Jung: Der Moderne Mensch auf der Suche nach der Seele )
Einen Monat lang blieb Johannes der Täufer weg, und Glogauer, der mit den Essenern lebte, empfand es erstaunlich leicht, sich in ihren Tagesablauf einzuordnen. Ihre Wohnstätte bestand aus einer Reihe von Hütten, die aus Kalkstein und Lehm ge baut waren, und aus Höhlen zu beiden Seiten des flachen Tals. Sie teilten alles, was sie besaßen, und durften Frauen haben, wobei allerdings viele Essener ein mönchhaftes Leben führten. Sie waren Pazifisten, die den Besitz und das Tragen von Waffen ablehnten, den kriegerischen Täufer jedoch voll
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