Der Eroberer
Johannes und seine Anhänger lebten in der ständigen Angst, hintergangen zu werden. Selbst die Aufzeichnungen der Essener waren in Geheimsprache abgefaßt.
»Verzeih, Johannes.« Glogauers Stimme klang weich und bittend. »Aber du mußt mir sagen, ob ich recht habe oder nicht.«
»Bist du nicht ein Prophet, der in seinem Wagen aus dem Nichts zu uns gekommen ist?« Der Täufer machte eine weite Handbewegung und zuckte mit den Schultern. »Meine Männer haben dich gesehen. Sie haben gesehen, wie der Lichtschein in der Luft die Form einer Kugel angenommen, wie sie sich zerteilt hat und du auf die Erde herabgesunken bist. Ist das vielleicht kein Wunder? Und das Gewand, das du getragen hast? War das vielleicht von dieser Welt? Im Buch Micha steht geschrieben, daß ein Prophet kommen wird aus Ägypten mit Namen Emanuel. Soll nichts davon wahr sein?«
»Doch, das meiste, aber es hat seine logischen Erklärungen … Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch wie du. Ich kann keine Wunder vollbringen.«
Johannes machte ein finsteres Gesicht. »Soll das heißen, daß du uns deine Hilfe verweigerst?«
»Ich bin dir und den Essenern dankbar. Ihr habt mir das Le
ben gerettet. Wenn ich das je wieder gutmachen kann –«
»Du kannst, Emanuel. Du kannst.«
»Wie denn?«
»Sei der große Prophet, den ich brauche. Sprich zu allen, die sich von Adonias’ Willen abwenden, weil sie ungeduldig werden. Laß mich ihnen erzählen, auf welche Weise du zu uns gekommen bist. Und dann kannst du ihnen sagen, daß alles Adonias’ Wille ist und sie sich bereitmachen sollen, seinen Willen zu vollführen. Wirst du das tun, Emanuel?«
»Dir zuliebe, Johannes. Darf ich dich nun darum bitten, daß du meinen Wagen möglichst schnell hierherbringen läßt? Ich möchte gern sehen, ob man ihn nicht doch noch reparieren kann.« »Ich werde ihn holen lassen.«
Glogauer war selig. Er lachte in die Nacht hinein. Der Täufer sah ihn erstaunt an, dann stimmte er in das Lachen ein. Glogauer lachte weiter. Die Geschichte würde er nie erwähnen, aber er, mit Johannes dem Täufer zusammen, bereitete den Weg für Christus.
Christus war noch nicht geboren. Vielleicht wußte es Glogauer ein Jahr vor der Kreuzigung.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Johannes legte Zeugnis von ihm ab und rief: »Dieser war es, von dem ich gesagt habe:
Der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er vor mir war.«
(Johannes 1:14-15)
Selbst zu Zeiten, wo er Monica erst kurz gekannt hatte, hatten sie pausenlos Streitgespräche geführt. Sein Vater war damals noch am Leben gewesen, hatte ihn aber vorzeitig ausbezahlt. Mit dem Geld hatte er den Occult Bookshop in der Great Russel Street gekauft, gegenüber vom British Museum. Er hatte bis dahin herumgejobt und war ständig schlechter Laune, wenn nicht gar echt deprimiert gewesen, und Monica hatte ihm damals enorm geholfen. Mit sicherer und vor allem sehr gütiger Hand hatte sie ihn durch die finsteren Schluchten seines Denkens geführt. Sie hatten im Sommer 62 endlose Spaziergänge im Holland Park unternommen. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war er damals schon ein glühender Anhänger von Jung und seiner Ansicht über die Religionsgeschichte gewesen. Monica, für die Jung ein rotes Tuch war, hatte bald damit angefangen, sämtliche Ideen und Thesen des Schweizer Psychiaters und Psychotherapeuten anzugreifen. Überzeugt hatten sie ihn nie, aber es war ihr gelungen, ihn unsicher zu machen. Nach sechs Monaten Bekanntschaft waren sie erst zusammen ins Bett gegangen. Es war drückend heiß.
Sie saßen im Schatten der Cafeteria und sahen einem Krikket-Spiel zu. Ein paar Meter von ihnen entfernt saßen zwei Mädchen und ein junger Mann im Gras und tranken Orangensaft. Eines der Mädchen hatte eine Gitarre im Schoß, stellte das Glas neben sich und fing zu spielen und zu singen an. Glogauer versuchte, die Worte zu verstehen. Als Student hatte er Folksongs sehr gern gemocht.
»Das Christentum ist tot.« Monica schlürfte ihren Tee. »Die Religion siecht dahin. Gott wurde neunzehnhundertfünfundvierzig umgebracht.«
»Man kann immer auf eine Auferstehung hoffen«, sagte Glogauer.
»Daß uns bloß das erspart bleibt! Die Religion war die Schöpfung der Angst. Wissen zerstört Angst. Ohne Angst kann die Religion nicht überleben.«
»Sag bloß, du glaubst, heutzutage gibt es keine Angst mehr.«
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