Der Eroberer
»Nicht dieselbe, Karl.«
»Hast du denn nie über die Idee Christi nachgedacht? Und darüber, was sie den Christen bedeutet?«
»Diese Idee des Traktors bedeutet für die Marxisten mindestens ebensoviel«, sagte sie.
»Aber was war erst da: Christus oder der Traktor?«
»Christus, dieser jüdische Quertreiber, der sich eingebildet hat, eine Revolte gegen die Römer anzetteln zu können. Na, er wurde ja auch gekreuzigt dafür. Mehr braucht man über seine Biographie wirklich nicht zu wissen.«
»Eine Weltreligion kann nicht so simpel angefangen haben.« »Wieso denn nicht? Wenn die Menschen eine Religion brau chen, dann machen sie sich eben eine. Die Ausgangsbasis ist ihnen egal. Sie kann noch so unwahrscheinlich sein.« »Das ist ja gerade mein ständiges Reden, Monica«, sagte er. »Die Idee war zuerst da, und dann kam erst Christus.« Ein Pärchen ging an ihnen vorbei. Monica verfiel in Schweigen. Schließlich stand sie auf. Er ebenfalls, aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich gehe, Karl«, sagte sie. »Bleib du noch. Wir sehen uns
dann in ein paar Tagen.«
Er sah ihr nach.
Als er am Tag darauf von der Arbeit zurückkam, fand er einen Brief von ihr. Sie mußte ihn noch am Abend zuvor geschrieben und aufgegeben haben.
Lieber Karl,
Konversationen scheinen Dir wenig zu geben. Du hörst Dir die Worte an und den Rhythmus der Stimme, aber das, was man Dir mitteilen will, berührt Dich nicht. Du bist wie ein sensibles Tier, das einfach nicht versteht, was man sagt, aber spürt, ob man heiter oder wütend ist. Das ist der Grund, warum ich Dir jetzt schreibe – ich will versuchen, ob nicht doch einmal etwas einsickert. Wenn wir uns gegenübersitzen, reagierst Du zu emotionell.
Du machst den Fehler, das Christentum als etwas aufzufas sen, das sich in den paar Jahren zwischen Christi Tod und der Aufzeichnung der Evangelien entwickelt hat, aber das Chri stentum war nichts Neues. Nur der Name, den man der religiö sen Bewegung gegeben hat. Das Christentum war lediglich ein Stadium in der sich kreuzweise befruchtenden Metamorphose abendländischer Logik und morgenländischen Mystizismus. Man braucht bloß zu verfolgen, wie sich die Religion durch die Jahrhunderte hindurch verändert und reinterpretiert hat, um dem jeweiligen Stand der Wissenschaft gerecht zu werden. Die Bezeichnung Christentum ist lediglich ein neuer Name für ein
Konglomerat von alten Mythen und Philosophien. Die Evange lien erzählen bloß den Sonnenmythos nach, vermischt mit ein paar verstümmelten Ideen der griechischen und römischen Antike. Bereits im zweiten Jahrhundert haben jüdische Gelehr te nachgewiesen, was für ein Mischmasch das Ganze ist. Die vielbesungenen Wunder haben nicht stattgefunden.
Erinnere Dich an die alten Viktorianer, die zu sagen pfleg ten, daß Plato im Grunde ein Christ war, weil er christliches Gedankengut verbreitet hat. Christliches Gedankengut! Das Christentum war der Träger für Ideen, die schon Jahrhunderte vor Jesus Christus im Umlauf waren. War Mark Aurel ein Christ? Entsprechen seine Schriften nicht der Tradition abend ländischer Philosophien? Das ist genau der Grund, warum sich das Christentum im Westen verbreiten konnte und nicht im Osten. Mit Deinen bigotten Vorurteilen hättest du Theologe werden sollen, nicht Schmalspurpsychologe. Dasselbe gilt für Deinen Freund Jung.
Versuche, Deine Gedanken von diesem morbiden Unsinn zu säubern, und Du wirst es in Deinem Beruf endlich zu etwas bringen.
Deine Monica
Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn weg. Ein paar Stunden später war er versucht, ihn wieder glattzustreichen und noch einmal zu lesen, aber er zwang sich, es nicht zu tun.
III
Johannes stand bis zu den Hüften im Wasser. Die Essener standen am Ufer und sahen zu. Glogauer sah ihn an.
»Ich kann es nicht tun, Johannes«, sagte er. »Es ist nicht an
mir, es zu tun.«
»Du mußt aber«, murmelte der Täufer.
Glogauer schauderte, als er in den Fluß hineinwatete. Er war verwirrt, stand zitternd neben Johannes und wußte nicht, was er tun sollte.
Er machte noch einen Schritt, rutschte auf einem glitschigen Stein aus und wäre ins Wasser gefallen, wenn ihn der Täufer nicht aufgefangen hätte.
Die Sonne stand im Zenit und stach erbarmungslos auf sein bloßes Haupt herunter.
»Emanuel!« rief Johannes plötzlich. »Der Geist Adonias’ ist in dir!«
Glogauer brachte immer noch keinen Ton heraus. Er schüttelte den Kopf. Das Hämmern war unerträglich, und er sah kaum etwas. Der erste
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