Der Eroberer
Kinder hörten nicht auf, sie anzustarren …
Ceidre erwachte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schwitzte vor Angst. Tränen standen ihr in den Augen. Tränen um das kleine Mädchen, das zum ersten Mal der hässlichen Wirklichkeit begegnet war. Denn der Traum war nicht bloß ein Alptraum. Es hatte sich alles genau so zugetragen.
Nach diesem Vorfall gingen ihr die Kinder aus dem Weg, schlossen sie von ihren Spielen aus. Und wenn sie mitspielen wollte, beendeten sie ihr Spiel und liefen davon. Alice zischte ihr immer wieder das böse Wort ins Gesicht. »Hexe!«
Ceidre setzte sich auf. Sie wünschte, ihr Vater wäre noch am Leben. Sie erinnerte sich lebhaft, wie sie damals tränenüberströmt zu ihm gelaufen war, wie er sie hochgehoben und auf seinen Schoß gesetzt und sie ihn angefleht hatte, ihr die Wahrheit zu sagen. »Bin ich eine Hexe, Papa? Bin ich das?«
Er hatte gezögert. Ceidre hatte sich an ihm festgeklammert und plötzlich gewusst, dass es die Wahrheit war. »Nein, mein Schatz«, hatte er endlich gesagt und ihr Kinn angehoben. »Du bist keine Hexe. Lass dir solchen Unsinn nicht einreden.«
Die Instinkte eines Kindes sind unverdorben, frei von vorgefassten Meinungen, und Ceidre spürte seinen inneren Aufruhr, seine eigene Unsicherheit. Sie war nicht beruhigt, nicht besänftigt. Im Gegenteil, sie war verwirrter denn je. Nun konnte sie sich nicht mehr die Ohren zuhalten, sich nicht mehr abwenden, das Flüstern folgte ihr auf Schritt und Tritt. Es war ein bitterer Trank für ein Kind, als Hexe bezeichnet zu werden.
Sie wusste selbst nicht, ob die anderen Recht hatten oder nicht, klammerte sich hartnäckig an die Worte ihres Vaters und ging den anderen Kindern aus dem Weg, die Alice' Beispiel folgten und ihr gleichfalls hässliche Schimpfnamen gaben. Ceidre verbrachte viel Zeit mit ihrer Großmutter, der sie bei der Herstellung ihrer Heiltränke und Arzneipulver half. Sie streifte durch die Wälder, gemeinsam mit Thor, Edwins Wolfshund, der ihr ständiger Begleiter wurde.
Die Zeit heilt alle Wunden und Ceidre gewöhnte sich an ihr Leben als Ausgestoßene. Die Nachstellungen hörten allmählich auf, als die Kinder erwachsen wurden, heirateten, Familien gründeten und ihrer Arbeit auf den Feldern und im Haus nachgingen. Ceidre war bald in der Heilkunst ebenso bewandert wie ihre Großmutter, und ihre Dienste waren sehr gefragt. Man behandelte sie mit einer Mischung aus Scheu, Unsicherheit und Respekt, aber nicht unfreundlich. Und dann beschloss ihr Vater, es sei Zeit für sie zu heiraten, und hielt Ausschau nach einem Bräutigam.
Doch das Leben versetzte ihr einen weiteren harten Schlag, sie musste einer neuerlichen hässlichen Wirklichkeit ins Auge sehen. Ceidre hatte auch das durchgestanden, so wie sie die jetzige Situation durchstehen würde. Sie erhob sich, schlug die Lederhaut am Zelteingang zurück und ließ das erste rosige Licht des anbrechenden Tages ein. Sie wusch sich in der Schüssel Wasser, die man ihr hingestellt hatte, und trat ins Freie.
Der Wachposten wich mit einem hastigen Blick in ihre Richtung eilig zur Seite. Ceidre achtete nicht auf ihn, begegnete sie dieser Haltung doch ihr ganzes Leben lang und müsste daran gewöhnt sein. Kurz nach dem Erwachen aus ihrem Alptraum versetzte es ihr dennoch einen Stich. Sie blickte zu den Normannen hinüber, die dabei waren, das Lager abzubrechen. Und wie Metall vom Magneten angezogen wird oder die Blume vom Licht, so suchte sie ihn.
Der Normanne stand im Gespräch mit Guy, dem Ritter, dem sie das Schlafpulver verabreicht hatte. Sein Blick war auf sie gerichtet.
Eine Flut der Erinnerungen stürmte auf Ceidre ein. Wie er sie in seinen Armen gefangen gehalten, ihr seine Überlegenheit gezeigt hatte, sie mit seinem heißen gewaltsamen Kuss bestraft hatte. Und sie hatte sich so jämmerlich und hilflos gefühlt, wie ein in der Falle sitzender Hase. Sie verkrampfte sich in der Erinnerung daran, Zorn und Hass ließen ihr Blut pulsieren. Wenn er es wagen sollte, sie noch einmal zu berühren, würde sie ihm die Augen auskratzen. Diesmal würde sie schnell genug sein! Ein Schauder durchflog sie, sie blickte wieder in seine Richtung. Und sie würde sich nicht mehr über seine Furchtlosigkeit vor ihrem "bösen Blick" wundern.
Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Plötzlich aber setzte er sich in Bewegung und kam mit langen Schritten auf sie zu.
Ceidre rührte sich nicht von der Stelle. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, wollte ihn nicht sehen. Und dennoch
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