Der erste Tropfen Blut: Thriller (German Edition)
Er wandte sich wieder zum Fenster um. »Haben Sie sich nicht auch gefragt, was eigentlich mit ihm passiert ist? Warum er so geworden ist, meine ich?«
»Nee. Weiß ich nicht, interessiert mich nicht. Wir haben den kleinen Drecksack geschnappt, und er wandert für sehr lange Zeit hinter Gitter. Mehr brauche ich nicht zu wissen.«
»Hmmm.« Ein Streifenwagen bog in die Queen Street ein. Die Windschutzscheibe glitzerte im Sonnenlicht, als der Fahrer anhielt, um eine alte Dame über die Straße zu lassen. »Vor einem halben Jahr war er noch ein ganz normaler achtjähriger Junge, und jetzt ist er ein Mörder. Ein großer Schritt für so einen kleinen Knirps.«
»Sie hören sich an wie ein verdammter Sozialarbeiter. Er ist ein verzogener kleiner Rotzbengel, mehr gibt’s da nicht zu sagen.« Das Ritsch-ritsch-ritsch eines billigen Tankstellenfeuerzeugs – und kurz darauf waberte eine weiße Rauchwolke in Richtung Fenster.
»Man bringt doch keinen alten Mann um, bloß weil Mama und Papa einem kein Pony kaufen.« Er blickte sich um – Steel fläzte sich entspannt in ihrem Sessel, wie eine zerzauste Katze, die Absätze tief im Teppich vergraben, die Arme im Nacken verschränkt, und paffte zufrieden vor sich hin. »Da muss doch etwas passiert sein.«
Sie nahm die Kippe aus dem Mund und beäugte ihn durch die Rauchschwaden hindurch. »Wären Sie so nett, mir den Erfolg nicht madig zu machen? Wir haben gewonnen – nun freuen Sie sich halt.« Sie streifte den Ärmel zurück und schielte auf ihre Uhr. »Kommen Sie, wir haben gerade mal noch Zeit für eine Pinkelpause, bevor die Staatsanwältin hier aufkreuzt. Und ziehen Sie um Gottes willen nicht so ein Gesicht – gegen Sie ist ja Doc Miesepeter noch ein Ausbund an Fröhlichkeit.«
Die Staatsanwältin nahm auf dem am wenigsten versifften von Steels Besucherstühlen Platz. Sie sah braun gebrannt und erholt aus. Ihre Stellvertreterin Rachael Tulloch dagegen, der sie die Amtsgeschäfte überlassen hatte, während sie sich irgendwo am Strand geaalt hatte, wies die typische Aberdeener Winterblässe auf: der Teint hell, beinahe durchscheinend, das lange kastanienbraune Lockenhaar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie nestelte daran herum, während die Staatsanwältin mit Steel die Liste der Straftaten durchging, die sie Sean Morrison zur Last legen würden.
Sie war hübsch; Logan konnte nicht glauben, dass ihm das vorher nie aufgefallen war. Nicht schön, aber hübsch auf eine gesunde, keltische, Mädchen-von-nebenan-Art. Sie blickte auf, ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte, und lächelte.
Er kam sich vor wie ein ungezogener Teenager, als er errötend wegschaute.
Als sie fertig waren, blieb Rachael ein wenig zurück und ließ Steel mit der Staatsanwältin vorausgehen. »Na«, sagte sie und band sich die Haare auf, sodass die Locken sich über ihre Schultern und ihren Rücken ergossen, »wie ich höre, haben Sie Sean mehr oder weniger im Alleingang geschnappt.« Logan erhob Einspruch, doch sie wollte nichts davon hören. »Ganz zu schweigen von all den Einbrüchen, die Sie aufgeklärt haben.« Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, und dann verdrehte sie die Augen und setzte mit übertriebenem amerikanischem Akzent hinzu: »Gibt es eigentlich irgendwas , was Sie nicht können?«
»Ich … na ja …« Logan hatte plötzlich Probleme, mehr als zwei Wörter aneinanderzureihen.
»Übrigens« – sie holte tief Luft –, »ich glaube, ich schulde Ihnen noch einen Drink. Von damals, wissen Sie?« Dabei berührte sie seinen Arm leicht mit den Fingerspitzen.
»Ah, na ja …« Und dann dachte er an Jackie und Rennie – er ahnt nichts … »Jetzt, wo Sie es erwähnen – da war doch was mit einem großen Gin Tonic.«
»Wann?«
»Äh … heute Abend?«
»Heute Abend. Sieben Uhr, Ferryhill House Hotel. In der Bar, nicht in der Lounge. Seien Sie pünktlich.« Rachael grinste, machte kehrt und eilte der Staatsanwältin nach. Sie drehte sich nur noch zwei Mal um.
Im Treppenhaus stieß Logan mit Gary vom Empfang zusammen. Der dicke Mann sah ihn nur an und stöhnte. »Was machen Sie denn hier? Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen sich bis Samstag freinehmen?«
»DI Steel.«
»Warum machen wir uns überhaupt die Mühe, einen Dienstplan aufzustellen?« Er kramte sein Notizbuch hervor und kritzelte etwas hinein. »Haben Sie eine Ahnung, wann Ihre Heiligkeit Sie wieder normalen Dienst schieben lässt?«
»Nein. Haben Sie zufällig Rennie gesehen?« Logan wusste nicht
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