Der erste Verdacht
dabei hatte.
Sie rief Tommy nochmals an. »Er läuft zum Parkplatz neben dem Clubhaus vom Golfplatz«, keuchte sie atemlos.
»Siehst du ihn?«
»Ja. Aber der Parkplatz ist von hohen Büschen umgeben … jetzt verschwindet er. Kann ihn nicht einer der Streifenwagen abfangen, wenn er auf die Landstraße hochkommt?«
»Weiß nicht. Es waren keine Streifenwagen in der Nähe, aber sie wollten welche schicken. Ich kann …«
»Jetzt fährt ein Auto vom Parkplatz!«
Sie gab sich alle Mühe zu erkennen, um was für eine Marke und was für ein Modell es sich handelte, eventuell sogar das Nummernschild zu lesen, aber es ging alles zu schnell. Schon wurden die Rücklichter des Wagens von ein paar Bäumen verdeckt und waren verschwunden.
»Verdammt!«, sagte Irene mit Nachdruck.
»Jetzt kommt der Krankenwagen«, teilte Tommy mit.
»Wie geht es ihr?«
»Am Kopf getroffen. Bei Bewusstsein, aber unter Schock«, berichtete Tommy.
Das war verständlich. Es gab schönere Dinge, als beschossen zu werden. Irene hatte immer noch den Überfall in Paris in frischer Erinnerung. Vielleicht waren der Mann hier und jener damals in Rothstaahls Wohnung ein- und dieselbe Person.
»Wir können nur hoffen, dass ihm einer der Streifenwagen den Weg abschneidet«, sagte sie, um sich aufzumuntern. Aber Tommy hatte bereits aufgelegt.
KAPITEL 20
Ihre dünnen, hohen Absätze hatten Sanna das Leben gerettet. Eine Sekunde, bevor der Täter abgedrückt hatte, war sie mit dem einen Absatz hängen geblieben und gestolpert. Deshalb hatte die Kugel nur eine tiefe Furche in ihre Kopfhaut gegraben und die äußerste Schicht der Schädeldecke gestreift, statt den Schädelknochen zu zerschmettern und ins Gehirn einzudringen. Sie würde für den Rest ihres Lebens als Andenken an das Attentat einen Scheitel direkt über dem linken Ohr behalten.
Die Ärzte hatten festgestellt, dass Sanna keine ernsthafte Schädelfraktur davongetragen hatte, hingegen eine ordentliche Gehirnerschütterung. Außerdem stand sie unter Schock. Eigentlich hätte man erwarten können, dass sie der Polizei gegenüber etwas Dankbarkeit an den Tag legte. Schließlich hatte die Polizei ihr das Leben gerettet. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie log nach wie vor wie gedruckt und weigerte sich, zufrieden stellende Antworten auf ihre Fragen zu geben. Als letztes Argument brachte sie vor: »Ich muss nach Hause und mich um meinen kleinen Sohn kümmern.«
Dabei richtete sie ihre tränennassen Augen auf Tommy, und ihre Lippen zitterten leicht. Hübsche Vorstellung. Irene schnaubte. Sanna versuchte, sie geflissentlich zu übersehen, was in dem winzigen Einbettzimmer nicht leicht war.
Über Nacht hatten sie einen Beamten im Haus in Askim postiert. Am Morgen waren Elsy Kaegler und der kleine Ludwig in Elsys Wohnung gebracht worden.
»Was wollen Sie zu Hause? Stellen Sie sich vor, der Mörder kommt zurück«, sagte Tommy.
Sannas Blick irrte herum, bevor sie ihre verweinten Augen wieder auf ihn richtete.
»Ich glaube nicht, dass er das wagt. Jetzt funktioniert die Alarmanlage, und er weiß auch, dass Sie über mich wachen«, entgegnete sie mit einem leichten Lächeln.
Sie scheint keine Angst vor dem Mann zu haben, der auf sie geschossen hat, dachte Irene erstaunt. Irgendetwas stimmte an Sannas Reaktion nicht. Eigentlich hätte sie außer sich vor Entsetzen sein und darum betteln müssen, beschützt zu werden und ein paar Tage zusätzlich in der Klinik bleiben zu dürfen.
»Wer hat versucht, Sie zu töten?«, fragte sie deshalb.
»Keine Ahnung«, antwortete Sanna rasch.
Tommy beugte sich zu ihrem verbundenen Kopf vor, der mit dem weißen Kopfkissenbezug fast eins zu werden schien, und fing ihren Blick ein. Mit leiser Stimme sagte er: »Sanna, hören Sie genau zu. Dieser Mann hat nachgewiesenermaßen vier Menschen ermordet. Menschen, die Ihnen nahe standen. Thomas Bonetti, Joachim Rothstaahl, Ihren Ehemann Kjell und Philip Bergman.«
Mit Absicht hatte er sich ihren schwächsten Punkt bis zuletzt aufgehoben. Ehe sie sich wappnen konnte, fuhr er im selben, fast hypnotischen Tonfall fort: »Gestern Abend hat er versucht, Sie ebenfalls zu ermorden. Wenn meine Kollegin und ich ihn durch unsere Rufe nicht gestört hätten und Sie nicht gestolpert wären, dann wären Sie jetzt tot.«
Er verstummte und rückte dem blassen Gesicht noch näher. Jedes Wort betonend, flüsterte er seine Frage: »Warum schützen Sie den Mörder?«
Sie starrte ihn trotzig an und wich schließlich seinem Blick
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