Der erste Verdacht
Oberarztes Dürsell eingelebt. Seine Lesebrille war ein Stück nach unten gerutscht, und er las in seinem dicken Handbuch, während er gleichzeitig verstohlen die Tür zur Station im Auge behielt. Als er Irene entdeckte, hob er das Handbuch zu einem diskreten Gruß. Irene gelang es, den Titel zu lesen, schwarze Lettern auf Gelb: »Hygienemaßnahmen bei der Reinigung von infizierten Räumen in der normalen Krankenpflege und auf Isolierstationen.« Das klang nicht gerade nach einem Buch, in das sich ein alter Oberarzt der Chirurgie an einem Sonntagvormittag vertiefte. Irene war erleichtert, als er den Wälzer wieder auf den Schreibtisch legte.
Fredrik stand, in eine Unterhaltung mit Schwester Ann-Britt vertieft, vor dem Empfangstresen. Er ist der Inbegriff eines fleißigen und engagierten Assistenzarztes, dachte Irene zufrieden.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit war, die Frühstückstabletts einzusammeln. Sie würden im Essenswagen zurück in die große Zentralküche der Klinik gehen.
Im Zimmer ganz hinten am Korridor lagen vier Frauen unterschiedlichen Alters. Eine ältere Frau erhielt eine Infusion und hatte nüchtern bleiben müssen, aber die anderen hatten mit gutem Appetit gegessen. Irene wechselte mit allen ein paar Worte und erklärte, sie sei die Aushilfe übers Wochenende.
Sonst arbeite sie in einem Pflegeheim und sei deswegen mit den Gepflogenheiten der Chirurgie nicht vertraut. Die Frauen verstanden sehr gut, dass der Unterschied zwischen Pflegeheim und Chirurgie sehr groß sein müsse. Es imponierte ihnen »wahnsinnig«, dass sie etwas Neues ausprobierte. Ihr ahnt gar nicht, wie neu das für mich ist, dachte Irene, als sie mit dem letzten Tablett das Zimmer verlassen wollte.
Als sie auf die Tür zuging, begann das Handy in ihrer Hosentasche zu vibrieren. Ihr Adrenalinspiegel stieg blitzartig, und sie ging so schnell wie möglich, ohne dass es unangenehm auffallen konnte.
Draußen auf dem Korridor ging gerade ein Arzt durch die Tür in Sannas Zimmer. Im Übrigen war außer Kajsa, die auf sie zu rannte, niemand zu sehen. Kajsa gestikulierte wild und deutete auf die Tür, durch die der Arzt verschwunden war.
Irene begann ebenfalls zu rennen. Auf dem Boden des Vorraums lag regungslos die Polizistin. In der Tür zu Sannas Zimmer sah sie den Rücken des Arztes. Ihr fiel sein braungebrannter Nacken auf. Er hob den Arm. In der Hand hielt er eine Pistole.
Irene schätzte den Abstand zwischen ihnen. Sie griff sich einen Teller vom Essenswagen, winkelte ihn zur Unterseite des Handgelenks an und schleuderte. Mit einem dumpfen Laut prallte er auf den Hinterkopf des Mannes und zersplitterte. Lautlos sackte er nach vorn. Gleichzeitig verriet ein leiser Knall, dass es ihm gelungen war zu schießen.
Da schrie Sanna. Irene gewöhnte sich allmählich daran, aber Kajsa, die sie eingeholt hatte, schnappte entsetzt nach Luft.
»Das bedeutet, dass sie noch lebt«, meinte Irene trocken.
Sie fühlte dem Mann den Puls. Er lebte ebenfalls noch, schien aber bewusstlos zu sein. In der Hand hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. Irene machte sie vorsichtig los und hielt sie dann, den Lauf zwischen Daumen und Zeigefinger, vorsichtig hoch.
Sanna lag im Bett und schrie hysterisch. Neben ihrer rechten Schulter breitete sich in rasendem Tempo eine Blutlache aus.
»Beruhigen Sie sich, Sanna. Er hat Sie nur an der Schulter erwischt«, versuchte Irene sie zu besänftigen.
Vergebens. Sannas Schreie waren auf der ganzen Station zu hören.
Ein echter Arzt, »Rufbereitschaft Chirurgie Westerlund«, war aufgetaucht und hatte dafür gesorgt, dass die Polizistin und der immer noch bewusstlose Mann auf die Intensivstation gebracht wurden. Die Polizistin war wieder zu sich gekommen, als man sie auf die Trage gehoben hatte. Eine starke Rötung am Hals sprach dafür, dass sie mit einem kräftigen Schlag zu Boden geschickt worden war.
Dr. Westerlund hatte Sanna als Erstes eine Beruhigungsspritze gegeben. Anschließend hatte er ihre Schulter mit einem stabilen Druckverband verbunden.
»Sie kommt sofort in den OP«, meinte er.
Er lächelte Irene an, als er hinzufügte: »Dieser Bursche kann von Glück sagen, dass er noch lebt. Das war ein Volltreffer!«
»Ich habe früher Handball im Verein gespielt und spiele immer noch Frisbee. Mein Hund ist wie verrückt danach«, erklärte sie.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte der Arzt und lachte. Sanna hatte sich etwas beruhigt und schrie nicht mehr. Mit gerunzelter Stirn sah
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