Der erste Verdacht
wohnt. Im Hinblick auf die späte Tageszeit, den Abstand und die Dunkelheit ist es unwahrscheinlich, dass sie mit dem Fernglas überhaupt etwas erkennen konnte.«
Irene musste ihrem Kollegen Recht geben. Gleichzeitig sah sie ein, dass es sich hierbei um die erste und einzige Zeugenaussage im Bonetti-Fall handelte, die nicht ordentlich überprüft worden war. Nach einigen Minuten Bedenkzeit griff sie zum Hörer und wählte die Nummer, die Annika Hermansson drei Jahre zuvor angegeben hatte.
Die Mittagsfähre in die südlichen Schären hatte etwa dreißig Passagiere, überwiegend Mütter mit kleinen Kindern und Rentner mit Einkaufstüten, an Bord. Die Sonne strahlte vom fast wolkenlosen Himmel und ließ die Wellenkämme funkeln. Die Möwen umflogen kreischend die Fähre, vielleicht hielten sie sie für ein Fischerboot. Nach einer halbstündigen angenehmen Schifffahrt ging Irene in Styrsö Brätten an Land.
Der Kontrast zu ihrem vorigen Besuch hätte größer nicht sein können. Da es kaum windete, konnte sie ihre Jacke aufknöpfen. Hier draußen fast am offenen Meer hatte man noch das Gefühl, es sei Sommer. Die Birken trugen gelbe Blätter, aber die Brise, die durch ihre Kronen wehte, duftete immer noch nach Sommer. Das Thermometer auf der Fähre hatte auf fünfzehn Grad gestanden, was für Mitte September nicht schlecht war. Irene schlug denselben Weg ein, den sie mit Tommy an jenem zugigen, kalten Dezembertag vor fast drei Jahren genommen hatte, als sie nach Spuren von Thomas Bonetti in dessen Sommerhaus gesucht hatten.
Die Adresse, die sie von Annika Hermansson bekommen hatte, führte sie zu dem Haus mit der hübschen Glasveranda, an das sie sich noch von ihrem letzten Besuch erinnerte. Die Veranda hatte Sprossenfenster mit roten und grünen Scheiben in regelmäßigen Abständen. Es handelte sich um ein recht großes Haus aus Holz. Wie die meisten anderen geräumigeren Häuser auf der Insel war es sicher Anfang des vorigen Jahrhunderts als Sommerhaus für eine reiche Familie aus Göteborg errichtet worden. Als Irene näher trat, sah sie, wie heruntergekommen das alte Gebäude war. Die Farbe der Fensterrahmen war fast abgeblättert, und die hübschen Regenrinnen, die in Drachenköpfe ausliefen, waren durchgerostet. Die gelbe Wandfarbe hatte sich an mehreren Stellen gelöst. Das Gras auf der kleinen Rasenfläche vor der Haustür war kniehoch. Das Einzige, was noch an einen Garten erinnerte, war das Geißblatt, das eine der Regenrinnen hochrankte.
Irene klopfte an die schiefe Tür. Nach einer Weile hörte sie einen heiseren Ruf: »Kommen Sie rein! Es ist offen!«
Irene drückte die Klinke hinunter und trat ein. Gestank von Schmutz und kalten Zigaretten schlug ihr entgegen sowie, unverkennbar, der Geruch von saurem Wein. Eine zusätzliche, durchdringende Duftnote entströmte verdorbenem Katzenfutter.
»Hallo«, sagte Irene laut.
»Hallo, hallo. Ich bin in der Küche«, antwortete eine raue Frauenstimme.
Irene machte einen großen Schritt über den Unrat in der engen Diele und ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Die Küche war groß und hell. Die Sonne schien durch ein Südfenster und würde im Laufe des Nachmittags zum Westfenster weiterwandern, und dennoch würden die Sonnenstrahlen kaum jemanden belästigen, da sie erst eine dicke Schmutz- und Salzschicht durchdringen mussten. Solche Außenrollos sind schon praktisch, dachte Irene. Die Kücheneinrichtung aus Kiefernholz stammte aus den Siebzigern, Kühlschrank und Herd waren avocadogrün. In der Küche stank es Ekel erregend, und Irene beglückwünschte sich dazu, noch nicht zu Mittag gegessen zu haben.
Die Frau saß mit einer schwarzen Katze auf dem Schoß am Küchentisch. Sie kraulte sie hinter dem Ohr, ein lautstarkes Schnurren war der Lohn. Als Irene über die Schwelle trat, sahen Katze und Frau auf.
»Guten Tag. Ich heiße Irene Huss. Ich bin die Kriminalinspektorin, die vorhin bei Ihnen angerufen hat. Sind Sie Annika Hermansson?«
Die Frau nickte.
»Es geht um das Verschwinden von Thomas Bonetti. Sie hatten angerufen …«
»Das wird aber auch langsam Zeit! Ich habe sogar mehrmals angerufen, aber Ihnen war das ja egal. Man muss wirklich jahrelang anrufen, bis die Polente mal reagiert! Sonst kann es gar nicht schnell genug gehen, wenn Leute anrufen und Lügen über einen verbreiten …«
Sie unterbrach sich und murmelte dann etwas Unhörbares. Auf dem Tisch stand ein halbvolles Wasserglas mit Rotwein, aus dem sie einen
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