Der erste Verdacht
jüngsten Mordfällen zusammenhängen? Das wirkte nicht wahrscheinlich, aber …
»Hallo, hallo! Erde an Irene, bitte melden!«, sagte Krister. Er sah sie forschend an, lächelte aber auch ein wenig dabei.
»Wie bitte? Verzeih. Ich war in Gedanken«, entschuldigte sich Irene.
»Das merken wir. Ich habe dich gefragt, wo der Korkenzieher ist, und Papa wollte wissen, ob du vor dem Essen einen Schluck Sherry möchtest«, sagte Katarina.
»Nein, danke. Einen Whisky. In der obersten Schublade neben dem Herd«, antwortete Irene verwirrt.
Krister und Katarina tauschten einen viel sagenden Blick aus.
»Mama. Setz dich doch einfach aufs Sofa. Papa bringt dir deinen Whisky, und ich mache den Wein auf. Dann gehe ich mit Sammie raus, wenn wir gegessen haben.«
In der Diele war das Scharren von Krallen auf Parkett zu hören. Sammie hatte offenbar seinen Namen und »raus« gehört. Sein Gehör schien offenbar doch noch ganz in Ordnung zu sein.
»Nein. Leg dich wieder hin. Du musst noch etwas warten«, sagte Katarina zu ihm.
»Warten« kommt im Vokabular von Hunden nicht vor. Als er begriff, dass der Spaziergang auf unbestimmte Zeit vertagt war, senkte er den Schwanz und trottete zu Jenny in den ersten Stock hinauf.
Irene leistete der Aufforderung ihrer Tochter Folge und begab sich ins Wohnzimmer. Sie ließ sich aufs Sofa sinken und zog die Beine an. Erst jetzt erlaubte sie sich, sich ihrer Müdigkeit hinzugeben. Sie hatte das Gefühl, ihr Gehirn hätte sich in Watte verwandelt und ihre Muskeln in Gelee. Konnte das am Alter liegen? Nie im Leben! Wenn es ihr nur gelang, am Sonntag ins Dojon zu kommen und mit ihrer Jiu-Jitsu-Gruppe zu trainieren, würde es ihr gleich viel besser gehen. Anschließend wollten Krister und sie an der Volksabstimmung über die Einführung des Euro teilnehmen. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie mit ja oder mit nein stimmen sollte. Morgen wollte sie mindestens fünf Kilometer joggen gehen, obwohl ihr das rechte Knie immer mehr zu schaffen machte. Sie war gezwungen, beim Laufen eine elastische Stützbandage zu tragen. Es handelte sich um eine alte Verletzung aus ihrer aktiven Zeit als Handballspielerin. Vielleicht hätte sie nicht warten und sich schon damals operieren lassen sollen. Düster stellte Irene fest, dass der altersbedingte Verfall ihres Körpers bereits eingesetzt hatte.
»Liebling, es ist nur noch ein kleiner Schluck Whisky übrig. Hättest du ihn gerne oder lieber etwas anderes?«, ließ sich Kristers Stimme aus der Küche vernehmen.
»Gieß ihn mir ein. Ich kaufe eine neue Flasche im Dutyfree- Shop, wenn ich nach Paris fahre«, antwortete Irene zerstreut.
In der Küche wurde es still. Irene hörte, dass Krister und Katarina es plötzlich eilig hatten. Beide bauten sich im Wohnzimmer vor ihr auf und sahen sie fragend an.
Irene machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ja, ja, ich erzähle euch alles, wenn ich meinen kleinen Whisky bekommen habe«, sagte sie.
Kommissar Andersson rief am Freitagabend gegen neun an und bestätigte, dass Irene und Kajsa nach Paris fahren würden. Birgitta hatte von Joachim Rothstaahls Eltern den Schlüssel zur Wohnung erhalten. Erst hatten sie sich geweigert, ihn aus der Hand zu geben, und Birgitta hatte ihre ganze Geduld und Überredungskunst aufbieten müssen. Schließlich war es ihr auch gelungen, etwas sehr Interessantes in Erfahrung zu bringen: Joachim und Philip Bergman hatten in derselben Wohnung gewohnt. Die Eltern der beiden hatten dies während der ersten Verhöre mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte Philips Mutter angerufen und gefragt, ob es zutreffe, dass ihr Sohn mit Joachim zusammengewohnt habe. Die Mutter hatte dies bestätigt, dann aber rasch hinzugefügt, dass es nur vorübergehend gewesen sei. Philip habe eine eigene Wohnung gesucht. Es sei aber äußerst schwierig und teuer gewesen, im Zentrum von Paris etwas zu finden.
»Komm morgen im Präsidium vorbei. Der Schlüssel liegt am Empfang. Ihr fliegt Montag um 8.20 Uhr von Landvetter ab. Der Rückflug ist um 20 Uhr von Paris«, sagte Andersson.
Irene war zunächst sprachlos und sagte dann: »Ich hole dann morgen den Schlüssel. Vielen Dank für die Mühe mit den Buchungen und …«
»Du musst dich nicht bei mir bedanken, darum hat sich Birgitta gekümmert«, unterbrach sie der Kommissar.
Das hätte Irene klar sein müssen, wenn sie nur etwas nachgedacht hätte.
»Übrigens füge ich auch den Papierstapel, den ich von Kajsa bekommen habe, hinzu, dann kannst du ihn auf
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