Der erste Verdacht
was? Sie kam nicht drauf, aber irgendwas war da. Wenn sie es doch nur entdecken könnten, dann wäre sie der Lösung vermutlich bedeutend näher gekommen.
»Sie wissen nicht, wie die beiden auf die schiefe Bahn gerieten?«, fragte Verdier, der offenbar ähnlichen Gedanken nachhing wie sie.
»Nein. Vielleicht handelte es sich um reine Geldgier«, antwortete Irene.
»Schon möglich.«
Ihr kam ein Gedanke.
»Vielleicht hat ja dieser Mann, der Kajsa und mich überfiel, das Rauschgift hier in der Wohnung versteckt? Oder einer der Männer, die gestern Abend hier waren?«, meinte sie.
Verdier nickte und erwiderte: »Diese Möglichkeit besteht natürlich.«
Er stand auf und sah auf die Uhr. »Es ist Zeit, Ihre Kollegin abzuholen, Kajsa Berger … Bjerg …«
»Birgersdotter.«
»Danke.«
Ein durchdringender Geruch von Urin und Reinigungsmitteln schlug ihnen entgegen, als sie die Station betraten. Kajsa saß auf einem Stuhl im Korridor und erwartete sie. Sie war blass und wirkte müde. Ein großer Verband um den Kopf ließ sie noch elender erscheinen. Eine riesige Krankenschwester watschelte auf Irene zu und begann, auf Französisch auf sie einzureden. Inspektor Verdier kam ihr zu Hilfe und übernahm die Unterhaltung. Die Schwester reichte Irene einen großen braunen Umschlag und sagte ein paar Worte zu Verdier. Anschließend lächelte sie Kajsa an und tätschelte ihr die Wange. Dann verschwand sie den Korridor entlang.
»Sie hat mich den ganzen Morgen wie ein kleines Kind behandelt«, murmelte Kajsa auf Schwedisch.
Verdier deutete auf Kajsa und fragte Irene: »Spricht sie Englisch?«
Bevor Irene antworten konnte, entströmte Kajsa ein wütender Wortschwall, der wie waschechtes Französisch klang. Irene verstand zwar kein Wort, aber nach Verdiers Gesichtsausdruck zu urteilen, verstand dieser genau, was Kajsa sagte. Als sie fertig war, verzog er den Mund und meinte trocken: »Aus Rücksicht auf Madame Huss sollten wir uns vielleicht ans Englische halten.«
Irene hörte, dass Kajsa etwas auf Schwedisch murmelte.
»Die Schwester meinte, Madame … nein … Mademoiselle Kajsa bedürfe der Ruhe. Sie hat eine Gehirnerschütterung erlitten und muss sich ein paar Tage ausruhen«, sagte Verdier.
Irene streckte die Hand aus, um Kajsa aus dem Stuhl hochzuhelfen, aber diese machte nur eine abwehrende Handbewegung und stand ohne Hilfe auf. Sie wurde noch eine Spur bleicher, schwankte und begann dann vorsichtig, sich auf den Ausgang zuzubewegen.
»Wie geht’s?«, fragte Irene.
»Was glaubst du?«, schnaubte Kajsa.
Sie schwiegen und sprachen erst wieder, als sie im Auto saßen. Irene hatte sich zu Kajsa auf den Rücksitz gesetzt. Verdier ließ den Motor an und fädelte sich in den Berufsverkehr ein.
»Wir fahren zu Rothstaahls Wohnung, weil wir uns dort ungestört unterhalten können«, sagte Irene auf Schwedisch.
Kajsa warf ihr einen raschen besorgten Blick von der Seite zu.
»Warum müssen wir dorthin fahren?«, fragte sie.
»Die Alternative wäre Verdiers Büro, und das würdest du nicht wollen.«
Wahrscheinlich hatte der Inspektor seinen Namen gehört, denn er warf Irene einen scharfen Blick im Rückspiegel zu. Sie beugte sich zu ihm vor und erklärte: »Ich will nur von Kajsa wissen, wie es ihr geht. In der Wohnung reden wir dann wieder Englisch.«
Sie lehnte sich zurück und warf ihm ein schwaches Lächeln zu. Er erwiderte es nicht. Als sie sich wieder an Kajsa wandte, um die Unterhaltung fortzusetzen, entdeckte sie, dass ihre Kollegin eingeschlafen war. Jedenfalls hielt sie die Augen geschlossen.
Irene seufzte laut und konzentrierte sich auf den Anblick des Eiffelturms in der Ferne.
Kajsa wollte sich nicht aufs Sofa legen. Sie setzte sich auf einen der durchgesessenen Sessel, Verdier ebenso. Irene nahm auf dem Sofa Platz.
Verdier kam sofort zur Sache: »Kannten Sie den Mann, der Sie angegriffen hat?«
»Nein«, antwortete Kajsa mit Bestimmtheit.
»Wie sah er aus?«
»Groß. Blond. Nicht fett, aber kräftig. Oder eher stark. Das ist ein besseres Wort: stark.«
Kajsa wirkte ausgesprochen zufrieden, das richtige Wort gefunden zu haben. Irene gab ihr Recht. Es entsprach dem Eindruck, den auch sie von dem Mann gewonnen hatte.
»Alter?«
»Zwischen dreißig und fünfundvierzig. Es ging so schnell. Ich hatte keine Zeit … und dann schlug er mir schon auf den Kopf, und ich wurde ohnmächtig … wahrscheinlich habe ich einiges vergessen.«
»Wahrscheinlich. Wir möchten Ihnen dabei helfen, sich an
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