Der erste Verdacht
Taschentuch, das sie während des ganzen Gesprächs in der Hand gehalten hatte.
Styrsö. Wieso hatte Antonio Bonetti so heftig reagiert, als sie die Rede auf Styrsö gebracht hatten? Vorher schien er die Lage doch vollkommen im Griff gehabt zu haben? Verheimlichte er ihnen etwas? Irene beschloss, nicht locker zu lassen.
»Ich hole uns etwas Mineralwasser«, sagte Marianne Bonetti und erhob sich schwerfällig aus dem tiefen Sessel.
Ehe die Polizisten noch ablehnen konnten, war sie ihrem Mann gefolgt.
Irene beugte sich vor und tat so, als würde sie einen Strumpf gerade ziehen.
»Hak wegen Styrsö noch mal nach. Damit ist was«, flüsterte sie Tommy zu.
»Hm«, antwortete er leise.
Sie vernahmen das entfernte Rauschen einer Wasserspülung. Nach einer Weile betraten die Eheleute Bonetti gemeinsam wieder das Zimmer. Antonio Bonetti trug drei Flaschen Ramlösa und seine Frau ein silbernes Tablett mit vier geschliffenen Kristallgläsern. In jedem Glas lagen ein paar Eiswürfel. Sie legte vier vergoldete Untersetzer auf den Couchtisch und stellte jedem ein Glas hin. Die Eiswürfel klirrten, als ihr Mann das sprudelnde Mineralwasser eingoss. Sie setzten sich auf ihre Plätze. Der Anwalt trank einen Schluck Ramlösa.
»Ich leide an Angina pectoris. Eventuell muss ich mich im Winter operieren lassen«, sagte er.
Irene und Tommy nickten verständnisvoll. Tommy trank einen Schluck Mineralwasser und sagte dann: »Um wieder auf Styrsö zurückzukommen, gab es dort jemanden, mit dem Thomas sich verabredet haben könnte?«
»Nein.«
Mit einem energischen Knall stellte Bonetti sein Glas wieder auf den Untersetzer.
»Hatte er keinen Kontakt mehr zu Billy Hermansson?«, warf Irene ein.
Der Anwalt warf ihr einen schwer zu deutenden, hastigen Blick zu. Bevor sie sich einen Reim darauf machen konnte, sah er wieder weg.
»Nein. Sie spielten miteinander, als sie klein waren«, sagte er bestimmt.
»Sie haben also keine Ahnung, warum er an diesem letzten Abend nach Styrsö wollte?«, beharrte Irene.
»Nein. Wir wissen jetzt auch nicht mehr als früher. Er sagte, er müsse in Ruhe nachdenken.«
Antonio Bonetti wirkte wieder hochmütig und gefasst. Irene fiel auf, dass seine Hand zitterte, als er sein Glas hinstellte, aber vielleicht war das auch eine Nebenwirkung der Medizin.
»Haben Sie noch seinen Computer?«, fragte Irene.
»Computer? Was für einen Computer?«, wollte der Anwalt verärgert wissen.
»Seinen privaten. Vermutlich besaß er einen tragbaren. Haben Sie den?«, verdeutlichte sie.
Beide Eltern schienen nachzudenken. Schließlich schüttelte der Vater den Kopf.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass wir bei seinen Sachen einen Computer gefunden hätten. Du?«
Er wandte sich an seine Frau.
»Nein. Ein Computer war da keiner. Weder hier noch in London«, erwiderte sie.
»Sie haben auch keine Disketten gefunden?«
»Nein«, antworteten die Eheleute einstimmig.
»Hinsichtlich eventueller Anfeindungen fiel uns Thomas’ Beteiligung an Pundfix ein. Dieses Unternehmen betrieb er zusammen mit Joachim Rothstaahl, der, wie Sie wissen, vor einer guten Woche ermordet …«
»Thomas hatte sich von diesem Norweger Dahl hinters Licht führen lassen! Der wurde dann auch verurteilt und bekam eine lange Gefängnisstrafe! Diese unglückselige Geschichte mit Pundfix ist schon lange nicht mehr aktuell!«, schnauzte sie der Anwalt an.
»Ich habe über Erik Dahl Erkundigungen eingezogen. Bevor wir hierher kamen, erhielt ich die Antwort der norwegischen Polizei. Dahl wurde von einem Mitgefangenen im Dezember desselben Jahres, in dem Thomas ermordet wurde, erstochen«, sagte Tommy ruhig.
Das war auch für Irene eine Neuigkeit. Gleichermaßen erstaunt wie das Ehepaar Bonetti sah sie Tommy an.
»Eine Menge Leute aus dieser Gruppe haben in den letzten drei Jahren ein gewaltsames Ende gefunden«, meinte er.
»Bloß weil ein Unternehmen Konkurs anmeldet und ein paar Leute große Summen verlieren, werden in der Geschäftswelt noch lange keine Morde verübt!«, rief Antonio Bonetti.
Das kommt ganz darauf an, um was für Geschäfte es sich handelt, dachte Irene.
»Man muss immer mit der Gefahr einer globalen Krise und einer daraus folgenden Rezession rechnen. Das gehört zu den Risiken des Geschäftslebens«, fuhr der Anwalt fort.
Und was Ihr Sohn damals mitverursacht hat, war eine der schlimmsten Rezessionen überhaupt, lag Irene bereits auf der Zunge.
»Hatte Thomas eine Freundin?«, fragte Tommy.
»Thomas hatte viele
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