Der erste Verdacht
glauben können, eine Neutronenbombe sei auf der Insel explodiert, kein Leben weit und breit, nur die Häuser standen noch. Das einzige Lebewesen, dem sie begegnete, war eine Fischmöwe, die sie von einem Stein am Ufer anglotzte. Kreischend flog sie auf, als sich Irene näherte. Sie sah keine weiteren Anzeichen von Leben, bis sie Annika Hermanssons Haus erreichte. Auf der Treppe saß die schwarzweiße Katze und beobachtete sie mit einem bösartigen Funkeln in ihren gelben Augen.
»Hallo, Mieze. Kennst du mich noch?«, fragte Irene und beugte sich zu ihr hinab.
Zur Antwort legte die Katze die Ohren zurück und fauchte. Irene zog die ausgestreckte Hand zurück. Man konnte sich nicht mit allen anfreunden. Katzen spürten sicher, wenn sie eine Hundebesitzerin vor sich hatten.
Energisch klopfte Irene an die Tür und öffnete, als sie von innen einen leisen Ruf zu vernehmen meinte. Derselbe Übelkeit erregende Geruch wie beim letzten Besuch schlug ihr entgegen. Sie holte einmal tief Luft, bevor sie in die voll gestellte Diele trat.
»Hallo, Annika. Ich bin’s, Irene Huss. Ich habe gestern angerufen, und Sie waren mit meinem Kommen einverstanden.«
Während sie noch sprach, ging sie auf die Küche zu, aus der Gemurmel drang. Es klang, als versuche jemand, durch einen Knebel hindurch zu sprechen. Sie blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen, als sie das formlose Bündel auf dem Boden entdeckte. Erst glaubte sie, Annika sei bewusstlos oder tot, aber dann hörte sie zu ihrer Erleichterung ein Lallen. Sie lebte, war aber offenbar unglaublich betrunken.
Irene kniete sich neben Annika hin und versuchte, ihren Zustand zu beurteilen. Sie hatte erbrochen und stank nach Urin. Vergebens versuchte sie, etwas zu sagen, aber das einzige, was über ihre kraftlosen Lippen kam, waren der Geruch von Erbrochenem und Schnaps. Sie lag auf dem Bauch mit zur Seite geneigtem Kopf, was sie vermutlich davor bewahrt hatte, an ihrem Erbrochenen zu ersticken. Ihr Kopf lag in einer Blutlache. Als Irene sie vorsichtig näher in Augenschein nahm, bemerkte sie eine tiefe Wunde über der linken Schläfe, die jedoch offensichtlich nicht von einem Überfall, sondern von der Tischkante stammte. Annika lag auf ihrem eigenartig angewinkelten linken Arm. Als Irene ihn anfasste, schrie sie auf. Er war wohl gebrochen.
Irene erhob sich, nahm ihr Handy und wählte den Notruf. Sie forderte einen Krankentransport an und versuchte zu erklären, wo das Haus auf Styrsö lag.
»Wir schicken ein Ambulanzboot. Können Sie es in Empfang nehmen?«, fragte die Frauenstimme.
»Klar. Das Haus liegt direkt am Wasser. Ich warte draußen.«
»Gut. Ich gebe Ihre Handynummer durch, dann melden die sich, sobald sie in der Nähe sind. Dann brauchen Sie nicht länger als nötig draußen zu stehen.«
»Danke.«
Sehr viel mehr konnte sie für Annika nicht tun. Sie lag in der richtigen Position und hatte sich bereits mit Alkohol betäubt. Irene fand im Durcheinander auf der Küchenbank eine schmutzige Decke, die sie über ihr ausbreitete.
Sie konnte die Zeit, die ihr bis zum Eintreffen des Ambulanzbootes blieb, genauso gut nutzen. Vorsichtig begann sie, sich in dem heruntergekommenen Haus umzusehen. Sie bewegte sich behutsam, nicht weil sie Angst gehabt hätte, etwas herunterzureißen, sondern weil sie keine große Lust hatte, in etwas Übelriechendes zu treten. Sie beschloss, mit dem Obergeschoss anzufangen, und erklomm die schiefe Treppe.
Das Schlafzimmer besaß ein großes südwestliches Giebelfenster mit einer großartigen Aussicht aufs Meer. Irene öffnete das Fenster und sicherte es mit einem rostigen Haken, um sich überhaupt im Zimmer aufhalten zu können. Der Wind rüttelte wütend am Fenster, aber der Haken schien zu halten. Einige gerahmte Fotos standen auf der zerkratzten, grün lasierten Kommode. Irene trat näher heran, um sie genauer betrachten zu können.
Auf dem ersten Bild, das sie in die Hand nahm und ins Licht hielt, war ein junges Mädchen mit einem Baby auf dem Schoß zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis Irene klar wurde, dass das Annika und Billy sein mussten. Da es sich um ein Farbfoto handelte, sah man, dass Annika einmal schulterlanges, rotbraunes Haar gehabt hatte. Sie lächelte ein wenig und schaute ruhig, fast trotzig, in die Kamera. Das Baby war ein paar Monate alt und vollkommen kahlköpfig. Irene nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, wie süß Annika in jungen Jahren ausgesehen hatte. Niemand, der sie jetzt betrachtete, hätte das geahnt.
Auf
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