Der erste Versuch
einen kleinen Kuss auf die Stirn, fasste nach ihren
Händen und zog sie empor.
Milan hatte vom Festland ein Boot angefordert, das Alina
und ihn nach Pula brachte; betriebseigene Fahrzeuge standen
für private Zwecke nicht zur Verfügung, in der herrschenden
Situation – höchste Sicherheitsstufe – schon gar nicht.
Er gab sich außerordentlich zuvorkommend, aufmerksam und
galant, was Alina ein uns andere Mal in Verwunderung
versetzte. Früher, so erinnerte sie sich nur zu gut, steckten
seine Gedanken auch in seiner Freizeit in den Projekten, mit
denen er sich gerade beschäftigte; er musste eher auf private
Annehmlichkeiten geschubst werden, als selber initiativ zu
sein. Alina war sich stets sicher gewesen, dass er sie liebte,
aber auf seine Art; es intensiv im täglichen Umgang zu zeigen,
lag ihm nicht. Und nun – nicht als Liebhaber, sondern als
Freund? Fiel es ihm leichter, weil sich Emotionen zwischen
ihnen auf einer anderen Ebene bewegten, sodass
Zukunftsängste keinen Nährboden hatten? Ihr kam sein
mittägliches Verhalten in den Sinn. Und sie glaubte sich
sicher, dass dieses Gespräch mit ihrem Besuch zusammenhing.
Warum vertraute er ihr nicht? Ungereimtheiten reihten sich in
Alinas Erinnern. „Meinen Marsaufenthalt hatte er nicht parat,
mit der Vereinigung für das zweite Leben wusste er zunächst
nichts anzufangen, sein Verhalten in der Nacht war so
anders…“, es war Alina, als ob sie bei diesem Gedanken die
wohligen Schauer abermals fühlte, „Alina hat er falsch betont,
das verschwundene Mäuschen, sein Schwindeln – und jetzt
diese ungewohnten Aufmerksamkeiten… Gut, es sind Jahre
vergangen, aber kann sich ein Mensch in seinem Alter im
Wesen so vielfach ändern?“
Sie saßen auf einer Bank im kleinen Park mit Blick auf die
Ruine des Kolosseums. Alina musterte Milan verstohlen von
der Seite. Sein Haar war jetzt grau und – im Gegensatz zu
früher – voll. Er habe das neue Mittel angewendet, hatte er auf
ihre Frage geantwortet. Und dieses wirke tatsächlich; selbst auf
Vollglatzen würde es wieder sprießen. Sein Gesicht hatte eine
leichte Polsterung erfahren – wie sein Körper auch –, was ihm
gut stand. Die große, etwas gekrümmte Nase hatte an
Dominanz verloren. „Was hat den Mann so verändert?“, dachte
Alina. „Eine Beziehung, ein Grunderlebnis? Ist es überhaupt
der Milan, den ich kenne?“ fragte sie sich zum zweiten Mal.
„Wenn nicht, welcher sonst mit diesen Daten?“ Gleichzeitig
wusste Alina, dass sie das Treffen mit diesem Milan nie
bereuen würde.
„Gehen wir“, sagte Milan.
Sie warteten nicht auf die offizielle Führung, stiegen ein in
das kühle Bauwerk und ließen sich von der Allgewalt der
Historie gefangen nehmen. Alsbald beschloss Alina,
unfruchtbares Grübeln beiseite zu schieben, den Nachmittag zu
genießen, Milan, so wie er sich jetzt gab, zu akzeptieren – nur
zu gern – und nicht nur die Zukunft, sondern auch das Morgen
zu verdrängen.
Sie kletterten übermütig in den alten Mauern des Kolosseums
herum, gedachten mit Schaudern angesichts des Löwenganges
der grausamen Gladiatoren-Kämpfe, ließen sich durch die
düsteren Katakomben führen und bewunderten Hunderte
Amphoren, die den alten Römern den Wein frisch hielten.
Apropos Wein: Alina lud Milan in ein altes Restaurant ein,
das den herben, dunkelroten Einheimischen ausschenkte, der
ihnen später in der noch herrschenden Tageshitze den Gang
zum Hafen beschwingt machte. So fiel es ihnen auch leichter,
eine kleine Gruppe von Menschen zu betrachten: eine Frau mit
einem amputierten Bein in einem Rollstuhl, den Stumpf über
dem Knie entblößt, daneben ein jüngerer Mann, vielleicht ihr
Sohn, mit einem Schild, auf dem stand:
Ein alter Stuhl nur für den armen Mann, ein neues Bein nur,
der sich’s leisten kann.
Dazu hatten sich ein Dutzend Leute geschart, die mit
steinernen Gesichtern auf die meist achtlos vorbeieilenden
Passanten sahen.
Alina verhielt den Schritt, erschrocken und unangenehm
berührt.
Milan griff nach ihrer Hand und zog die leicht
Widerstrebende weiter in Richtung Hafen.
„Aber…“, protestierte sie.
„Die Regeneration von Gliedern und Organen und überhaupt
gentechnische Manipulationen sind sehr aufwendig, zum
Beispiel die Erfüllung des Wunsches nach einem Kind mit
spezifischen Eigenschaften oder Merkmalen“, argumentierte er
in gleichgültigem Tonfall. „Aber das weißt du eh. Jeder kann
sich das ganz sicher nicht leisten. Natürlich teilt diese Situation
die
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