Der Esper und die Stadt
KOSTÜM IN DER T URNHALLE . Ich beeilte mich.
In der Turnhalle waren fünf Mädchen, die sich Kostüme von einem Stapel genommen hatten und sie anprobierten. Zwei von ihnen halfen einem dritten in eine Verkleidung mit großen, purpurnen Schwingen und setzten ihm eine orangefarbene Vogelmaske auf. Ein anderes Mädchen zog gerade eine goldene Haut aus, weil ihm ein besseres Kostüm ins Auge gefallen war. Zwei Mädchen, die mit einem Pelz und Goldfischschuppen bekleidet waren, standen vor dem Spiegel und probierten kichernd ein paar aufreizende Posen aus. In der Regel waren die Mädchen der Karmischen Bruderschaft entweder monogam veranlagt oder sehr wählerisch. Sie hielten allgemein wenig von dem Gedanken, Männer aufzureizen und in ihnen Lustgefühle zu erzeugen, indem sie attraktiv wirken wollten, denn das war unethisch.
Aber heute war der Tag der Gegensätze! Heute sollten sie sich vor ihnen in acht nehmen!
Ich schaute in den Spiegel und sah in mir einen großen, breit gebauten Burschen, dessen Knochen sich unter der Haut abzeichneten. Ich war zwar nicht mehr so fett wie früher, aber ich hatte immer noch dicke, muskelbepackte Arme, riesige Hände und ein rundliches, unschuldig aussehendes Gesicht. Ich sah beinahe aus wie ein großes Kind.
Was war nun mein Gegenteil? Etwas Finsteres, Bösartiges und Grimmiges. Ich untersuchte den Kostümstapel.
Das Mädchen mit der gestreiften Katzenmaske kuschelte sich an mich, rieb ihr rosafarbenes, gestreiftes Fell gegen meine Brust und schnurrte. Sie war vollständig mit einem weichen, seidigen Pelz bekleidet und duftete nach einem aphrodisischen Parfüm. Ich hatte das Verlangen, nach ihr zu greifen, aber dann atmete ich ruhiger, entspannte meine Muskeln und langte statt dessen nach einem Kostüm.
Das Mädchen umkreiste mich und kam schon wieder auf mich zu. Ich duckte mich. „Nun mach mal halblang“, sagte ich. „Vergewaltigt wird erst um Mitternacht.“
„Miiiaaauuu.“ Sie streckte ihre Finger, die wie Katzenkrallen aussahen, aus, als wolle sie mich anspringen. Ihr Schnauzbart sträubte sich in einem rosabepelzten Katzengesicht.
Ich stand auf einem Bein und schob das andere in eine dunkle Strumpfhose, als das Katzenmädchen einen seidigen Arm um meinen Hals legte und mich aus dem Gleichgewicht zog. Ich bekam ihre Schulter zu fassen und stützte mich auf sie. Mit der anderen Hand versuchte ich gleichzeitig in das enge Beinkleid zu schlüpfen. Sie krümmte sich und schnurrte und benahm sich wie eine überheiße Katze, die jemanden aufreizen wollte.
Auf der Straße waren die Pfeifen- und Trommelklänge einer vorbeimarschierenden Kapelle zu hören.
„Nun laß mich endlich in Ruhe“, sagte ich. „Bitte!“ Das Mädchen mit der Goldfischhaut kam mit wiegenden Schritten zu uns hinüber und zerrte das Katzenmädchen von mir weg. Hysterisch kichernd standen die beiden dann vor den Spiegeln, machten irgendwelche Gesten und lachten über ihr eigenes Ebenbild.
Ich kriegte die schwarze Hose schließlich an und staffierte mich mit gleichfarbenen Handschuhen und einer Kapuze mit Umhang aus.
Ich wollte unheimlich aussehen, aber mein Gesicht war noch immer rosafarben und rund. Von Bösartigkeit war da keine Spur. Ich steckte die Finger in Gesichtsfarbe, machte einen schwarz und einen silbern, und damit malte ich dann schwarzsilberne Streifen auf meine Wangen und das Kinn. Im Spiegel war ich nun eine schwarze Gestalt mit gestreiftem Gesicht. Ich sah ziemlich grimmig und abstrakt aus, wie ein Henker, der Könige richtet. Ich legte noch eine silberne Augenmaske an, die die obere Hälfte meines Gesichts verdeckte und es wie ein abstraktes Muster aussehen ließ – wie das
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