Der Esper und die Stadt
grinste vor mich hin. „Er weiß, wie man die Leute anspricht.“
„Bist du bereit, ihn für die Polizei aufzuspüren, George?“
„Nein.“
„Man wird ihn auch so kriegen. Er ist bereits identifiziert worden. Sein Nachname ist Rubaschow. Larry Rubaschow. Er ist fünfzehn Jahre alt und kommt aus dem Automationskomplex von Nevada.“
„Woran hat man ihn erkannt? An den Fingerabdrücken?“
„Nein, am Vokabular. Der Stil seiner Erpresserbriefe an die Kommunen war der gleiche wie der eines Larry Rubaschow, der im Dezember einen nationalen Preis für einen Band mit Gedichten und Essays bekommen hat. Willst du noch mehr wissen?“
„Gerne.“ Ich wollte mehr über Larry erfahren. „Wieviel von einem Genie hat er?“
„Er hat ausgezeichnete Schulnoten in Englisch, Symbolismus und der Geschichte sozialer Dynamik. Hat eine Therapie gegen einen Emotionalblock in Mathe und Elektronik hinter sich. Sein Vater arbeitet im Nevada-Computer-Komplex im Bereich der Datenwiederherstellung; seine Mutter lehrt das gleiche in einer Programmiererschule. Beide verdienen vierstellige Summen. Larry ist ihr ältestes Kind. Zwei jüngere Geschwister leiden an diversen emotionalen Schwächen und müssen sporadisch ins Krankenhaus. Die Eltern wurden als pathogen eingestuft und dürfen keine Kinder mehr bekommen.“
„Was heißt das, pathogen?“
„Krankheitserzeugend. Sie sollten keine Kinder haben, weil sie sie nur verkorksen. Willst du noch mehr wissen?“
„Nein, danke, Ahmed.“
Karneval. Zusammen mit der warmen Sommerluft kam das rhythmische Trommeln marschierender Spielmannszüge durch das Fenster herein. Obwohl ich noch schlief, fing ich an, die Erinnerungsbilder kostümierter Menschenmengen zu sehen. Es war eine Parade prächtiger Karren, Spiele und Schaukämpfe im Stadion und abendlicher Feste und seltsamer Verkleidungen. Um Mitternacht übertrug das städtische Lautsprechersystem das Ticken der Uhren, und die, die sich auf den Partys noch fremd waren, wandten sich einander zu, waren blind von sinnlichkeiterzeugenden Sprays und tanzten zum Klang der Trommeln. Schlafen. Ich drehte mich herum.
Eine Stimme aus der Erinnerung sagte deutlich: „Jedes System wird zu einem System, indem es seine oppositionellen Kräfte ausschließt. Die menschliche Natur verdrängt jedoch ihre unterdrückten oppositionellen Impulse nicht. Sie akkumulieren und verlagern sich in Phantasien. Alle alten und beständigen Zivilisationen stabilisierten sich, indem sie periodisch Zeremonien abhielten, um die angewachsenen oppositionellen Impulse freizusetzen.“ Es war die klare Stimme unserer Anthropologie-Lehrerin aus der fünften Klasse. Als ich wach wurde, fiel mir ein, daß sie uns ein paar irre Filme über den Karneval in aller Welt – und welche aus der tiefsten Vergangenheit – gezeigt hatte. Sonnenwendopfer, Orgien, Frühlingsrituale und so weiter. Höhlenmenschen, alte Griechen und Mardi Gras in New Orleans.
Unter dem Fenster erklangen dumpfe Trommelwirbel. Bum, bum, bumbumbum – bum, bum, bumbumbum. Ich legte mich auf die Seite, stand unbekleidet auf, blinzelte in das helle Sonnenlicht hinein und befürchtete, daß ein Teil der karnevalistischen Sehenswürdigkeiten bereits vorbeigegangen war.
Der Besucherschlafraum war fast leer. Die anderen waren auf die Straße gegangen, um sich den Sommerkarneval anzusehen. Ich stieg in meine Shorts und die Sandalen, stopfte meine Sachen in die Schlafsackrolle und lief hinunter. Die an den Wänden hängenden Plakate gaben bekannt, wo Veranstaltungen liefen. Auf einem stand HOL DIR EIN
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